Am 31. Oktober 2020 wäre Star-Fotograf Helmut Newton 100 Jahre alt geworden. Im Dokumentarfilm über den aus Nazi-Deutschland geflohenen Juden, der mit nackten, höchst provokanten Frauenporträts Weltkarriere machte, sorgt Regisseur Gero von Boehm für hohe Schauwerte – und viel weibliche Prominenz.
Wie es Helmut Newton wohl heute in Zeiten der MeToo-Bewegung ergehen würde? 2004, im Alter von 83 Jahren, war der Fotograf bei einem profanen Verkehrsunfall in Los Angeles ums Leben gekommen. Kurz vor seinem 100. Geburtstag am 31. Oktober 2020 durfte sich Dokumentarfilmer Gero von Boehm über "uneingeschränkten und exklusiven Zugang zum Archiv der Helmut Newton-Stiftung" freuen, in dem viele private Film- und Fotodokumente des 1920 in Berlin geborenen Helmut Neustädters, so hieß er damals, lagen. Im Alter von 17 Jahren war der Sohn eines jüdischen Fabrikanten aus dem nationalsozialistischen Berlin geflohen.
In von Boehms Film sprechen – bis auf Newton selbst – ausschließlich berühmte Frauen über den Fotografen. Viele von ihnen haben als Models unter Newton gearbeitet: Isabella Rossellini und Nadja Auermann, von denen nicht nur die meisten, sondern auch die klügsten Analysen zum Künstler und Menschen Newton kommen, außerdem Claudia Schiffer, Hanna Schygulla, Charlotte Rampling, Grace Jones, Marianne Faithfull, US-"Vogue"-Chefredakteurin Anna Wintour und natürlich Newtons jahrzehntelange Ehefrau June. Susan Sontag erscheint als – einsame – Newton-Kritikerin im Film über einen Mann, der fast ausschließlich als sympathischer Schlingel gezeichnet wird.
Stichwort MeToo: Ein Ausnutzen seiner Machtposition, unangenehmen Druck oder gar Übergriffigkeiten wirft keine seiner ehemaligen Bild-Protagonistinnen dem Linsen-Maestro vor. Dabei waren dessen Bilder mit zwar meist als mächtig inszenierten, aber eben auch typische Männerfantasien bedienenden Frauen doch jene Art Bilddokument, die es heute ziemlich schwer hätte.
Anna Wintour bezeichnet Newton als Fotografen, den man engagierte, um im Heft "Stopper" zu erzeugen, also Bilder, die man sich anschauen muss, bei denen man auf keinen Fall weiterblättern konnte. Warum? Weil Newton in seinen Fotos Geschichten erzählte, weil er verstörte oder zumindest erregte: Nadja Auermann fotografierte er mit derangierten Körperteilen und Accessoires von Behinderten. Auch die Foto-Session mit Bulgari-Schmuck an Frauenhänden, die blutige Hühnchenteile in der Küche präparierten, waren nicht jedermanns Sache. Der Kunde, so hört man, war damals ziemlich entsetzt. Doch einem Helmut Newton ließ man so etwas trotzdem durchgehen.
Ohnehin, so die Damen im Film, konnte man ihm nichts übelnehmen. "Helmi", wie seine australische Ehefrau ihn nannte, war stets offen, zugänglich und ein Filou mit großer Zugewandtheit. Ein Menschenfänger. Seine (Foto)frauen waren stark, groß gewachsen, oft blond. Unverkennbare Newton-Frauen, wie Wintertour bestätigt – sie waren durchaus von der Ästhetik Leni Riefenstahls beeinflusst, die Newton als Heranwachsender im Berlin der 30-er erlebt hatte. Und das, obwohl er Jude war.
"Er erzählte auch viel über Männer", sagt Schauspielerin und Ex-Model Isabella Rossellini. Newtons Bilder schienen stets zu sagen: "Ich mag dich, aber das sollte ich nicht, denn du bist gefährlich", sagt sie. "Helmut war nicht einfach ein Macho, es war komplizierter. Er sah Frauen als Sexobjekte, er fand sie anziehend, aber gleichzeitig hegte er auch einen Groll gegen sie. Das ist schon sehr machohaft: Männer, die sich von Frauen angezogen fühlen, ihnen das aber übel nehmen, weil es sie verwundbar macht. Aber es gibt diese Kultur – und gleichzeitig gibt es Künstler, der ihr Ausdruck verleihen."
Insofern seziert Newtons schlau arrangierte, gewissermaßen aber auch naive Fotokunst klassische Männerfantasien, weil sich der Künstler traut, zu ihnen zu stehen. Auf einem seiner berühmtesten Bilder sieht man ein Krokodil, das eine langbeinige Schönheit bereits zur Hälfte verschluckt hat. Nur noch Hintern und Beine schauen aus dem Maul heraus. "Seine Fantasien sind ungeheuerlich, so etwas gibt es nicht ein zweites Mal" erregt sich Schriftstellerin Susan Sontag in einer französischen Talkshow. Ihr Gegenüber, der echte Helmut Newton, nimmt die Kritik gelassen. "Aber ich liebe und verehre Frauen sehr." "Eben so argumentieren fast alle Machos", setzt es die Replik. Sontag bleibt im Prinzip die einzige Kritikerin der Newton-Ästhetik in diesem Film.
Gero von Boehms "Helmut Newton – The Bad and the Beautiful" ist über 93 Minuten überaus unterhaltsam. Dafür sorgen allein die tollen Fotos und gut aufgelegten Gesprächspartner. Eine besondere Tiefe darf man von diesem Film nicht erwarten, dafür war Newton selbst zu sehr einer, der Tiefe ablehnte. "Ich bin ein professioneller Voyeur, aber die Leute, die ich fotografiere, interessieren mich überhaupt nicht", sagte er einmal. "Was mich interessiert, ist das draußen, was meine Kamera sieht. Die Leute sagen immer zu mir: Du fotografierst keine Seele. Aber, wie fotografiert man eine Seele? Ich fotografiere einen Körper, ein Gesicht. Mich interessieren der Busen, die Beine – aber ... Seele, das verstehe ich nicht." Newton sagt an einer Stelle des Films, für ihn gebe es zwei "dreckige Worte" – wohl in Bezug auf seine Arbeit. Eines lautet Kunst, das andere: guter Geschmack. Dennoch sind Newtons Werke zumindest optisch "großes Kino" – weshalb es Sinn macht, seine Bilder nun noch einmal leinwandgroß zu betrachten.
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH