In 28 Jahren der Berliner Mauer ergriffen viele Tausende die Flucht nach Westen – in umgekehrter Richtung dagegen deutlich weniger. Was 1971 den Berliner Jugendlichen Sturmo und Mücke, 17 und 18 Jahre alt, gelang, dürfte einmalig gewesen sein: Binnen 24 Stunden einmal von Ost nach West und zurück.
Viele Tausende wagten in den 28 Jahren, in denen die Berliner Mauer bestand, die Flucht von Ost nach West. Es gab aber auch andere, die von West nach Ost die Mauer stürmten – aus Abenteuerlust, aus Protest. Was den Ostberliner Jugendlichen Joachim "Mücke" Mückenberger und Rainer "Sturmo" Wulf aus der Potsdamer Villen-Kolonie Neu-Babelsberg an Ostern 1971 gelang, dürfte allerdings ziemlich einmalig gewesen sein.
"Go West Go East – Mauerspringer" heißt der Film von Christian Klemke und Dieter Wulf, der an Coup der damals 17 und 18 Jahre alten Jugendlichen erinnert: Dort, wo die Mauer durch weniger streng bewachtes Sperrgebiet, einen Wohnort für "zuverlässige" Potsdamer Filmleute, Wissenschaftler und Parteifunktionäre, verlief, setzten sie eine Teppichstange schräg an der 3,80 Meter hohen Mauer an. Nächtens sollten sie überwunden werden. In Westberlin angekommen, stellten sie allerdings fest, dass zumindest für sie die Welt im Westen auch nicht anders war – und sie kehrten innerhalb eines Tages auf gleichem Wege zurück.
Der "Tagesausflug" blieb nicht ohne Folgen: Mückes Angebetete war die Tochter des Potsdamer Polizeipräsidenten und verriet den Coup an ihren Vater. Der Einzug in die Volksarmee und ein Baulager waren für kurze Zeit die "verdiente" Strafe. Mückenberger machte später – dann schon im Westen – noch vielfach die Mauerrunde und landete dabei mehrfach in psychiatrischer Betreuung. Größeres Aufsehen erregte er damit jedoch nicht – die Mauer war beidseits der Grenze längst als stabilisierender Grenzwall anerkannt.
Die Dokumentation über die "Mauerspringer" taucht nicht nur in die Geschichte des abenteuerlichen Mauersprungs von 1971 ein, sie will auch ein Bild vom "kleinen Universum" junger ostdeutscher Intellektueller und Unangepasster aus der ersten Generation DDR-Geborener zeichnen. Die Mauerspringer Mücke und Sturmo erzählen aus inzwischen unterschiedlichen Perspektiven gemeinsam mit anderen Zeitzeugen ein fast unglaubliches Kapitel ost-westdeutscher Geschichte.
Der Coup der Berliner Jugendlichen fand im Übrigen bereits mehrfache literarische und cineastische Würdigung. 1974 schrieb der DDR-Schriftsteller Stefan Heym nach Interviews mit Wulfs Vater, einem Rechtswissenschaftler, die Erzählung "Mein Richard" und plädierte dafür, den freiwilligen Rückkehrern "wegen größtmöglicher Treue zu unserer Republik" einen Orden zu verleihen.
Im Westen schrieb Peter Schneider 1982 seinen Roman "Der Mauerspringer" und zugleich das Drehbuch zum Reinhard-Hauff-Film "Der Mann auf der Mauer" mit Marius Müller-Westernhagen, der sich von den abenteuerlichen Vorbildern allerdings weit entfernte.
Geschichte im Ersten: Go West Go East – Mauerspringer – Mo. 09.05. – ARD: 22.35 Uhr