Er spielt einen professionellen Dieb, einen Mörder, der dennoch ein tiefes Verlangen verspürt, für andere zu sorgen. "Es ist schwer", sagt er, "dieses Verlangen zu akzeptieren und sich einzugestehen, dass man doch nicht so stark ist. Die Stärke liegt darin, das Bedürfnis nach Liebe zuzugeben." Für Harvey Keitel ist die Rolle des Gauners in Quentin Tarantinos "Reservoir Dogs" (1992) eine Identifikationsfigur, die ihn als Schauspieler fordert. Zwar ist er seit seinem Debüt in Martin Scorseses "Wer klopft denn da an meine Tür?" (1968) bereits ein auffallender Charaktertyp, doch damals spielt er im Grunde immer nur sich selbst, etwa als Kumpel von Robert De Niro in "Hexenkessel", als Zuhälter in "Taxi Driver" (1976) und in "Alice lebt hier nicht mehr" (1974).
Denn Keitel ist - wie Scorsese - eine jener Filmfiguren: auch er ist ein Slum-Kind aus einer ebenso armen wie tief religiösen Familie. Seit Anfang der Achtzigerjahre arbeitet er viel in Europa mit Regisseuren wie Ettore Scola, Lina Wertmüller, Theo Angelopoulos und Bertrand Tavernier.
Als Sohn eines Rumänen und einer Polin wächst er unter anderen jüdischen Einwanderern in Brooklyn und Brighton Beach auf. Der Vater ist Näher in einer Fabrik, die Mutter arbeitet als Serviererin. Harvey lernt - was seine Eltern nie schafften - Schreiben und Lesen. All sein Wissen, seine Intelligenz, seine Lebensphilosophie hat er als Junge aus Büchern herausgesogen. Er dient bei der Marine und erhält seine Schauspielausbildung in Lee Strasbergs "Actor's Studio". Zuvor spielt er bereits bei Sommertheatern, ist Mitglied der berühmten "La Mamma"-Truppe. In den Filmen, Filmfiguren, den authentischen Dekors bei Scorsese fühlt er sich zu Hause. Er spielt immer wieder den Good Bad Guy aus den schäbigen Einwanderer-Viertel neben Robert De Niro, Peter Boyle und den anderen aus der "Familie".
Doch Harvey Keitel webt nicht - wie andere - an seiner Legende, er bleibt in der Öffentlichkeit zurückhaltend, spricht kaum von sich, seiner Herkunft, seiner Familie und Vergangenheit. Erst später, als ihn das Drehbuch zu Abel Ferraras "Bad Lieutenant" (1991) reizt, wird er erstmals gesprächig. Aus einem Interview in der "Los Angeles Times" erfährt man Privates, von Verfehlungen und Hoffnung, vom Zweifel an der Religion. Indem er den drogenabhängigen Polizisten spielt, der immer wieder von Wettleidenschaft getrieben wird, bestätigt sich für ihn ein Stück seiner eigenen Erfahrungen, der streng religiösen Lebensphilosophie.
Keitel zählt heute zu den bedeutendsten und meistbeschäftigten Charakterdarstellern des neuen amerikanischen Films. Seine Klasse beweist er in ganz unterschiedlichen Rollen, und die Liste seiner Auftritte ist lang. So sah man ihn in Jack Nicholsons Die Spur führt zurück - The Two Jakes" (1989), Ridley Scotts "Thelma & Louise" (1991), Jane Campions "Das Piano" (1992), Philip Kaufmans "Die Wiege der Sonne" (1993), Quentin Tarantinos "Pulp Fiction" (1994), "Unsere Welt war eine schöne Lüge" (1994), in Wayne Wangs Doppelfilm "Smoke - Raucher unter sich" und "Blue in the Face - Alles blauer Dunst" (beide 1995), Barry Sonnenfelds "Schnappt Shorty!" (1995), Theo Angelopoulos' "Der Blick des Odysseus" (1995), "From Dusk till Dawn" (1996), James Mangolds "Cop Land" (1997), "City of Industry" (1997), "Lulu On The Bridge" (1998), "Three Seasons", "U-571" (2000) und Little Nicky" (2000).
Weitere Filme mit Harvey Keitel: "Spiegelbild im goldenen Auge" (1967), "Pueblo" (1973, ungenannt), "A Memory Of Two Mondays" (1974, TV), "The Virginia Hill Story" (1974, TV), "Shining Star" (1975), "Buffalo Bill und die Indianer", "C.R.A.S.H.", "Willkommen in Los Angeles" (alle 1976), "Die Duellisten", "Finger - zärtlich und brutal" (beide 1977), "Blue Collar - Kampf am Fließband", "Adlerflügel" (beide 1978), "Anatomie einer Leidenschaft", "Der gekaufte Tod" (beide 1979), "Grenzpatrouille" (1980), "Flucht nach Verennes" (1982), "Une pierre dans la bouche", "La Bella Otero", "Copkiller", "Gefährliches Dreieck" (alle 1983), "Der Liebe verfallen", "Dream One" (beide 1984), "Star Knight - Der Herr der Sterne", "Baciami strega" (TV), "Camorra" (alle 1985), "Off Beat - Lasst die Bullen tanzen", "La sposa americana", "Zwei Superpflaumen in der Unterwelt", "The Men's Club", "Blindside" (alle 1986), "Dear America" (Stimme), "Jack, der Aufreißer", "Die Untersuchung" (alle 1987), "Down Where The Buffalo Go", "Die letzte Versuchung Christi", "Grandi Gorbaciov", "Im Zeichen der Jungfrau" (alle 1988), "Due occhi diabolici", "La Batalla de los Tres Reyes" (beide 1990), "Tödliche Gedanken", "Bugsy" (beide 1991), "Codename: Nina", "Sister Act - Eine himmlische Karriere" (beide 1992), "Dangerous Game", "Young Americans - Todesspiele" (beide 1993), "Immer Ärger um Dojo", "Who Do You Think You're Fooling?", "Liebe bis zum Tod" (alle 1994), "Clockers" (1995), "Kopf über Wasser", "The World's Best Sellers Or The Fine Art Of Seperating People From Their Money" (beide 1996), Full Tilt Boogie", "Zauber der Elfen" (beide 1997), "Shadrach", "Finding Graceland", "Il mio West" (alle 1998), "Holy Smoke", Presence Of Mind", "An Intresting State" (alle 1999), "Fail Safe - Befehl ohne Ausweg" (TV), "Prince Of Central Park" (alle 2000), "Nailed", "Vipera", "Taking Sides - Der Fall Furtwängler", "Die Grauzone", "Ginostra", "Dreaming Of Julia" (alle 2001), "Roter Drache" (2002), "Das Vermächtnis der Tempelritter", "Liebe lieber italienisch", "Die Brücke von San Luis Rey" (alle 2004), "Be Cool" (2005), "A Crime - Späte Rache", "The Path to 9/11 - Wege des Terrors" (beide 2006), "Das Vermächtnis des geheimen Buches" (2007), "Moonrise Kingdom" (2012), "The Congress", "Grand Budapest Hotel" (beide 2013).
Außerdem hatte Keitel Auftritte in den TV-Serien "Dark Shadows" (1966), "Einsatz in Manhattan" (1973), "FBI" (1974) und "Unglaubliche Geschichten" (1985).