Leonard Cohen war nie das, was man eine Rampensau nennt, und jetzt, mit 78 (Anm. d. Red: 2013), wird er das auch nicht mehr werden. Aber wenn er Konzerte gibt, wird das Publikum in den ausverkauften Hallen jedes Wort, jeden Vers mitsingen oder genüsslich aufsaugen, als ob es ein Stück des eigenen Lebens wäre.
Es mag mit Cohens alttestamentarischen Ton zusammenhängen – seine nasale Beerdigungsstimme, der vielfältige Gebrauchdes Adjektivs "holy" –, dass seinen Songs etwas Weihevolles, um nicht zu sagen Geweihtes anhaftet. In Kirchenchören, Schulen oder auch in Gesangvereinen, die sich nicht nur deutschem Liedgut widmen, kann man erleben, wie Cohens Song "Hallelujah" eingeübt und mit Inbrunst intoniert wird. Es handelt sich um eine simple, überaus hymnische und in religiösem Sinne erhebende Akkordfolge – sofern man nicht so genau auf die Worte achtet.
Ein Typ, der zu Missverständnissen Anlass gibt
Tut man es aber, bleibt eine Liebesklage von seltener sexueller Deutlichkeit zurück, worin der Autor seinen Beziehungsfrust mithilfe von Ironie abschüttelt –Hallelujah! Leonard Cohen ist ein Typ, der zu Missverständnissen Anlass gibt. In seinem nicht eben üppigem OEvre – zwölf Alben in fünfzig Jahren – geht es beinahe monothematisch um Liebe, Sex, Schuld und damit tatsächlich auch um Gott und göttliches Gesetz. "Es gibt ein Gesetz, es gibt einen Arm, es gibt eine Hand", und zwar eine strafende Hand, fürchtet er, der ewige Sünder, in einem seiner besten Lieder: "The Law".
Er war noch ein Halbwüchsiger, damals im Montreal der Fünfzigerjahre, als er seine Fähigkeit entdeckte, Frauen in den Bann zu ziehen, zu hypnotisieren; ungewiss, ob im übertragenen Sinn oder buchstäblich.
In der Cohen-Biographie "I’m Your Man" beschreibt die Autorin Sylvie Simmons eine Szene, in der Jung-Leonard eine Hausangestellte veranlasst, auf einem Chesterfield-Sofa Platz zu nehmen, ihm tief in die Augen zu schauen – und sich auszuziehen.
Spätestens von da an gab es für seinen 100.000-Volt-Charme nur selten ein Hindernis. Die kanadische Sängerin Joni Mitchel war eine der ersten, die sich in Cohen verknallte. Er diente ihr als männliche Muse, bald sollte es umgekehrt sein.
Suzanne und Marianne - melancholische Poetik
Suzanne Verdal wurde als Vorbild für das karrierestiftende Lied "Suzanne" berühmt. Über Marianne Jensen, Namensgeberin für "So long, Marianne", wurden Bücher geschrieben. Rebecca De Mornay war seine Geliebte, als sie mit ihm die Hymne "Anthem" produzierte.
Das Lied "Chelsea Hotel #2" erzählt von einem Rendezvous mit Janis Joplin im titelgebenden New Yorker Poeten-Hotel. Später räumte Cohen ein, Janis hätte eigentlich auf Kris Kristofferson gewartet, der sich aber nicht blicken ließ. Cohen als Ersatzmann.
Ob das stimmt? Ein Beispiel für Cohens feine Mimikry ist sein intim-schmerzliches Lied "Famous Blue Rain coat". Cohen schickt es in Form eines gesungenen Briefes an den Mann im blauen Regenmantel. Der hatte seine Frau verführt und sich dann wie zur Buße in die Wüsteneinsamkeit verzogen. Cohen gibt vor, ihm zu verzeihen.
Doch ahnt man, dass er wohl selbst der Verführer war. Cohens blauer Regenmantel war in New York stadtbekannt. Leonard, der Herzensbrecher, der dem Betrogenen vormacht, wie Verzeihen geht ...
Zurückgezogen hat er sich tatsächlich häufig, manchmal auch inmitten der tobenden Meute. Wenn Andy Warhol, Brian Jones, Nico und Lou Reed das New York der Sechziger aufmischten, war Cohen als stiller Gast immer dabei. Erst allmählich formten sich Lieder aus diesen Eindrücken. Die Besten erinnern an Szenen von Kafka ("The Singer Must Die") oder an liebestaumelnde Gemälde von Chagall – "Dance Me to the End of Love". Es ist die verlorene Welt des Ostjudentums, die bei dem kanadischen Juden Cohen aufscheint.
In den Neunzigern zog er sich in ein buddhistisches Kloster zurück, wo er unter dem Namen Jikan (der Stille) zum Mönch geweiht wurde.
Seine Hits wurden von vielen Stars gecovert
Es gab Zeiten, da wurde Cohen mehr gesungen, als dass er sich selbst sang. Schon sein erster Erfolg "Suzanne" kam in der Version von Judy Collins in die Charts. Später war es Jennifer Warnes, die seine Songs schönsang.
An "Hallelujah" versuchten sich viele. Rufus Wainwright und Jeff Buckley machten, jeder auf seine Art, ein Meisterwerk daraus. Weniger talentierte Sänger wie Bono oder Jon Bon Jovi blamierten sich mit dem Lied.
Auch in der Filmgeschichte taucht "Hallelujah" auf. An einem denkbar unglücklichen Ort, dem Kinder-Animationsfilm "Shrek - Der tollkühne Held". Wieder mal hatte niemand auf den Text geachtet.
Regisseur Robert Altman setzte drei Cohen-Lieder ("The Stranger Song", "Winter Lady" und "Sisters of Mercy") in seinem Spätwestern "McCabe und Mrs. Miller" ein, welche die frostig-düstere Atmosphäre dieser großartigen Kapitalismus-
Parabel prägten.
Oliver Stone baute auf Cohens "Waiting for the Miracle" (als Titelmelodie) und "The Future" in seinem berüchtigten Gewaltdrama "Natural Born Killers" von 1994.
Hinweis: Dieser Text erschien im Juni 2013 in der prisma-Ausgabe Nr. 25/2013