Morgenandachten im Radio sind sehr beliebt. In der Karwoche spricht Annette Kurschus.
Wer gern schreibt, ist im Allgemeinen auch ein guter und häufiger Leser. Wer im Radio spricht, von dem darf man annehmen, dass er gern zuhört oder zumindest gern Radio hört. Annette Kurschus, die Vorsitzende (Präses) der Evangelischen Landeskirche in Westfalen, hört die kirchliche Radioandacht "jeden Morgen beim Kaffeekochen".
In der Karwoche, dem Höhepunkt des Kirchenjahres, wird sie nicht zuhören, sondern reden. Annette Kurschus hält allmorgendlich die WDR-Radioandacht.
Was aber das Kaffeekochen angeht, darf man rätseln. Kocht sie ihren Kaffee um 6.56 Uhr, wenn die kleine, drei bis dreieinhalb Minuten lange Andacht auf WDR 5 gesprochen wird?
Oder eine Stunde später, um 7.50 Uhr? Dann wird dieselbe Andacht noch einmal auf WDR 3 gesendet.
Wir tippen auf Letzteres. Nicht weil wir die Pfarrerin des Spätaufstehens verdächtigen, sondern weil diese Andacht von oft sehr schönen Chorälen eingeleitet wird. Das hebt sie über das bloß gesprochene Wort hinaus.
Außerdem sagt sie von sich, Musik sei ihr das halbe Leben, besonders Cellospiel und Choräle.
"Für mich hat sie noch das Mädchen im Gesicht"
Martin Walser, der Schriftsteller und alte Schwadroneur, würde bei Annette Kurschus, hätten sie miteinander zu tun, vermutlich genau das beobachten, was er vor einiger Zeit über Angela Merkel äußerte: "Für mich hat sie noch das Mädchen im Gesicht."
Tatsächlich changieren die Züge der 52 Jahre alten Annette Kurschus zwischen Amtswürde und jugendlicher Anmutung, zwischen verschmitzter Bescheidenheit und zupackendem Ernst, etwa wenn sie sagt: "Und dann möchte ich schon auch von dem erzählen, von dem ich glaube, dass er das Leben und die Welt in Händen hält."
Von Jesus zu erzählen, von den grundstürzenden Ereignissen der Karwoche, dazu bekommt sie nun ausgiebig Gelegenheit und eine Plattform, die weit über die sonstige Gemeindegröße hinausreicht. Das mit dem Mädchen im Gesicht werden die Hörer der WDR-Wellen 3, 4 und 5 – das sollen täglich mehr als zwei Millionen sein – nicht überprüfen können, aber sie werden stimmlich mit einer Persönlichkeit konfrontiert, die mit Freude und Leidenschaft von dem erzählt, was sich vom Einzug Jesu in Jerusalem bis zu Kreuzigung und Wiederauferstehung zugetragen hat. "Da steckt ja alles drin", sagt Annette Kurschus, "vom Hosianna des Einzugs bis zum ‚'Kreuziget ihn!'"
Gartenlaube der Gläubigkeit
Die Evangelien sind widerspenstiger, auch widersprüchlicher Lesestoff, damit muss jeder Theologe zurechtkommen. Spätestens seit den Textgrabungsarbeiten des einst als Ketzer verschrienen, aber genialen Bibelforschers Rudolf Bultmann (1884 bis 1976) taugt das neue Testament nur noch sehr bedingt zur Gartenlaube der Gläubigkeit.
Die vier Evangelisten, vor allem der grundlegende Markus in seiner spröden Art – vielleicht ist er darum besonders glaubhaft –, aber auch Lukas und Matthäus, geben ein Erzähltempo vor, das vor den beschleunigten Gesetzen moderner Medien bestehen kann. Es sind zum Teil eigentümliche, befremdliche Szenen und Sätze, die mittenmang hineinführen ins Herz der christlichen Botschaft.
Das letzte Abendmahl: begangen im inneren Zirkel "der zwölf" (tatsächlich war die Zahl der Gefolgsleute größer) und wie immer begangen unter dem Dach eines großzügig Speis und Trank spendierenden Gastgebers, der aber von der ihm gebührenden Stellung zurücktritt und Jesus das Brot brechen lässt. Sehr eigentümlich das.
Oder Gethsemane: der durch nichts und niemandem zu bezeugende innere Monolog (Dialog?) von Jesus mit Gott im Garten Gethsemane, der einer Verhandlung über Tod oder Leben gleichkommt. Ergreifend. Aber auch glaubhaft?
Oder die Jünger: der von den Evangelisten Markus und Matthäus beinhart eingestreute Satz nach Jesu Verhaftung durch die Schergen des Hohepriesters: "Da verließen ihn alle und flohen." Die Jünger suchen das Weite. Nicht enttäuscht, sondern in heilloser Panik.
Eine Radioandacht muss dergleichen nicht ziselieren und theologisch aufbereiten. "Die biblischen Erzählungen wollen die Wirklichkeit nicht exakt abbilden", hat Annette Kurschus einmal gesagt, "Menschen erzählen davon, wie ihnen Gott begegnet ist."
Worauf es ihr ankommt, ist die Authenzität der Andacht. "Es soll klar werden: Das ist mir wichtig!" Zweitens soll das, was gesagt wird, sowohl für Interessierte wie auch für Außenstehende von Bedeutung sein.
"Die größte Falle, die man sich stellen kann", sagt sie, "ist die, dass man zu sehr nach dem möglichen Adressaten schielt, dann droht die Andacht banal und platt zu werden."
Was ist der Mensch?
Ihre Karwochen-Andachten sind längst geschrieben und im Bielefelder WDR-Studio eingespielt. Von den biblischen Geschehnissen ausgehend fragt sie: Was ist der Mensch? Sie wird über Leid und Leidenschaft sprechen, denn beides ist im Wort Passion angelegt. Gut möglich, dass sie ein Plädoyer für die Karfreitagsruhe hält, die viele Menschen für nicht mehr zeitgemäß halten.
Immer aber wird der im Zentrum stehen, "vom dem ich glaube, dass er das Leben und die Welt in Händen hält".