Von der Statistenrolle in "Geschichte vom Soldaten" 1925 unter der persönlichen Leitung von Komponist Igor Strawinsky bis zum Boulevardtheater-Erfolg "Tschao" von M.-G. Sauvajon kurz vor seinem Tode hat Pierre Brasseur ein halbes Jahrhundert lang Theater gespielt. Darüber hinaus hat er sich durch 150 Kinorollen hindurchgefressen, vom Gigolo zum Don Juan. Als er mit 66 Jahren viel zu jung starb, hieß es in den französischen Nachrufen, dass eines der letzten 'Monstres sacrés' gestorben sei und man nannte ihn 'Bête de Théatre'. Als Marcel Carné und Jacques Prévert den dritten Film ihrer Trilogie "Hôtel du Nord" - "Der Tag bricht an" - "Hafen im Nebel" (1938/39) drehen, spielt er neben Michele Morgan, Jean Gabin und Michel Simon. Das ist poetischer Realismus pur, getragen von einer pessimistischen Lebenshaltung, die durch die politische Situation jener Zeit bedingt ist: der tragische Verlauf des spanischen Bürgerkrieges und der drohende Krieg mit Nazi-Deutschland.
In Carnés "Kinder des Olymp" (1943/45), dem opulenten Epos aus der Vichy-Regierungszeit, ist er der Gegenspieler von Baptiste, dem Mimen (Jean-Louis Barrault), Inbegriff des Pantomime-Theaters im Paris des 19. Jahrhunderts. Brasseur ist Frederic Lemaitre, der glutvoll emotionale Shakespeare-Darsteller. Eine Zeit des Umschwungs und kulturellen Wandels spiegelt sich in den Personen des menschlichen Dramas. In René Clairs Melodram "Die Mausefalle" (1956) spielt er im Porte des Lilas den Freund des Künstlers Georges Brassens. In diesem Pariser Viertel leben Arbeiter, Clochards, Vagabunden und verarmte Künstler, und hier taucht eines Tages Barbier, ein von der Polizei gesuchter Mörder (Henri Vidal) auf, den Juju (Brasseur) und der Artist aufnehmen. Die Freunde glauben an den guten Kern von Barbier, beschützen ihn vor der Polizei. Doch als sie erkennen, dass er mit ihnen allen ein böses Spiel treibt, bringt Juju ihn um. Diese liebevoll ironisch phantasievolle Vorstadt-Ballade lebt von der Atmosphäre, den Balladen des Chansonniers Georges Brassens und dem wunderbaren Spiel von Pierre Brasseur.
Die Eltern des Schauspielers, Germaine Brasseur und Georges Espinasse, gehören zur Theatertruppe von Sarah Bernhardt. Bei dem großen Charakter- und Volksdarsteller Harry Baur lernt er am Pariser Konservatorium sein Handwerk. Mitte der Zwanzigerjahre arbeitet er mit Jean Cocteau und der surrealistischen Avantgarde zusammen. 1935 heiratet er Odette Joyeux, der gemeinsame Sohn ist Claude Brasseur. 1924 beginnt Pierre Brasseurs Arbeit fürs Kino, doch sie bleibt für ihn immer zweitrangig, das Theater geht vor. Er spielt Liebhaber, Schurken, Clochards, Künstler. Oft sieht man ihn in den Dreißigerjahren in den französischen Versionen von deutsch-französischen Co-Produktionen wie "Quick" von Robert Siodmak (1932), wo Brasseur die Rolle von Hans Albers übernimmt. Dieser Tradition folgend sieht man ihn auch 1951 noch unter der Regie von Christian-Jaque in der Titelrolle des "Blaubart", den in der deutschen Version ebenfalls Hans Albers spielt.
Brasseur verfasst auch Theaterstücke, schreibt Gedichte und 1968 seine Memoiren. Er stirbt in Südtirol während der Dreharbeiten zu Ettore Scolas "Die schönste Soiree meines Lebens" (1972) nach einer Novelle von Friedrich Dürrenmatt. Weitere Auftritte hatte Brasseur in Marcel Carnés "Pforten der Nacht" (1946), "Die Liebenden von Verona" (1948), Max Ophüls' "Pläsier" (1951), "Die schmutzigen Hände" (1951), "Oase" (1954), "Die großen Familien", "Mit dem Kopf gegen die Wände" (beide 1958), Augen ohne Gesicht", "Karthago in Flammen" (beide 1959), "Opfergang einer Nonne" (1960), "Bel Antonio" (1960), Michel Devilles "Lucky Jo" (1964), "Ganoven rechnen ab" (1965), "Leben im Schloss" (1965), Philippe de Brocas "Herzkönig" (1966), "Vögel sterben in Peru" (1967), "Goto - Insel der Liebe", "Das Brautpaar des Jahres" (1970) und in "Musketier mit Hieb und Stich" (1971).