Thomas Helmer hört auf

"Der 'Doppelpass' ist zu meiner zweiten Familie geworden"

von Kai-Oliver Derks

Nach sechs Jahren als "Doppelpass"-Moderator verabschiedet sich Thomas Helmer nach der Europameisterschaft vom Fußball-Stammtisch. Im Interview blickt er zurück auf die EM seines Lebens, seine TV-Karriere und schaut in die Zukunft.

London. 30. Juni 1996. EM-Finale. Es ist die 95. Spielminute, als sich der Abwehrspieler Thomas Helmer an die Vorgabe seines Trainers Berti Vogts erinnert und einen 50-Meter-Pass vor den gegnerischen Strafraum spielt. Bierhoff gewinnt das Kopfballduell, legt ab auf Klinsmann, der flankt zurück zu Bierhoff. Der dreht sich im Duell mit Kadlec um die eigene Achse und kann sich durchsetzen. Das 2:1. Deutschland ist nach dem ersten Golden Goal der EM-Geschichte Fußball-Europameister. Jetzt, ziemlich genau 25 Jahre später, bedeutet auch das aktuelle Turnier eine Zäsur im Leben von Thomas Helmer. Ab Sonntag, 6. Juni, 11 Uhr, führt er noch sechsmal bei SPORT1 durch einen "EM Doppelpass". Dann verabschiedet sich der 56-Jährige vom Bildschirm. Sein Vertrag als Moderator wurde nicht verlängert. 

prisma: Herr Helmer, nehmen wir einmal an, wir schenken Ihnen 100 Euro, und Sie müssten auf den kommenden Europameister setzen. Auf wen setzen Sie?

Thomas Helmer: Schwere Frage. Ich habe ja lange nicht mal gewusst, wer da diesmal teilnimmt (lacht).

prisma: Nordmazedonien hat sich qualifiziert ...

Helmer: Ja, aber zurück zu Ihrer Frage: Ich setze auf Deutschland. 25 Jahre nach dem Titel 1996 – das wäre einfach eine sehr schöne Geschichte.

prisma: England darf man sicher auch zu den Favoriten zählen. Dem Trainer Gareth Southgate haben Sie ja einiges zu verdanken. Er verschoss 1996 im Halbfinale den entscheidenden Strafstoß im Elfmeterschießen.

Helmer: Die Engländer werden hoch gehandelt. Aber oft konnten sie dann bei Turnieren in der Vergangenheit dem Druck nicht standhalten. Aber ich gebe zu: Ich würde ihnen gönnen, dass sie weit kommen. Auch Belgien hat eine vielversprechende Mannschaft. Jedenfalls wenn man die Einzelspieler anschaut. Aber bei einem Turnier geht es eben auch immer darum, ob sich ein Team formt.

prisma: Was wird das für eine Europameisterschaft? Ein echtes Fieber brach jedenfalls hierzulande lange nicht aus.

Helmer: Bei mir war das nicht anders. Dafür gibt es, denke ich, einige Gründe: Die Idee mit den zwölf Städten scheint mir nicht wirklich eine glückliche gewesen zu sein. Dazu kommt, dass Zuschauer fehlen werden. Die Unruhen beim DFB, Misserfolge der deutschen Nationalmannschaft ...

prisma: Woran liegt es, dass die Magie der deutschen Nationalmannschaft seit 2018 so verschwunden ist? Das hat doch nicht nur mit dem Misserfolg in Russland zu tun.

Helmer: Sicher nicht nur. Es geht auch um die Unnahbarkeit, die sich bei dieser Mannschaft entwickelt hat. Schon vor Corona. Man darf nie unterschätzen, wie gefährlich eine Entfremdung vom Fan ist. Es ging zu sehr um Marketingfragen. Außendarstellung und Kommunikation waren streckenweise eine Katastrophe.

prisma: Die Bindung der Fans zu den Vereinen scheint, auch während Corona, geblieben zu sein. Beim Saisonfinale der Bundesliga konnte man jedenfalls diesen Eindruck gewinnen. Bei der Nationalmannschaft ist das anders.

Helmer: Früher waren Länderspiele ein Highlight. Nicht nur im Stadion, auch im Fernsehen. Du hast es dir gemütlich gemacht, hast dich gefreut auf den Abend. Wenn die Hymnen erklangen, war klar: Jetzt geschieht etwas Besonderes. Ich gebe zu, dieses Gefühl ist auch bei mir abhandengekommen.

prisma: Die EM 1996 – das war Ihr Turnier.

Helmer: Ich habe zwei Europa- und zwei Weltmeisterschaften gespielt. Aber das Turnier in England war nicht zu toppen. Die Atmosphäre, die Stadien, wir hatten so unglaublich viele Verletzte und blieben ein Team. Wir alle haben uns einander da durchgeholfen.

prisma: Den Sieg hatte man damals sicher vor allem der Defensive zu verdanken. Matthias Sammer und Sie wurden danach immer wieder hervorgehoben.

Helmer: Vergessen Sie Dieter Eilts nicht. Er war nie ein Lautsprecher, aber er war unfassbar wichtig für uns. Und er hat entscheidend, zusammen mit Steffen Freund, zu unserer Defensive beitragen. Matthias Sammer war natürlich ein Stratege. Er spielte hinten, war ja aber eigentlich Mittelfeldspieler. Irgendwann haben wir ihm befohlen, er solle sich gefälligst nicht mehr hinter uns auf dem Feld aufhalten. Wir würden das hinten schon machen. Er hatte die Aufgabe, den Ball immer wieder nach vorne zu treiben. Und das hat er getan. Es hat einfach gepasst.

prisma: Die erste Vorlage zum entscheidenden Golden Goal von Oliver Bierhoff im Finale gegen Tschechien kam von Ihnen. Ein, verzeihen Sie, einigermaßen planloser Ball über 50 Meter vor den gegnerischen Strafraum.

Helmer: Im Ernst: Da wundere ich mich bis heute. Eigentlich konnte ich den Ball gar nicht so weit schießen. Das war nie mein Talent. Nur zweimal hat es gepasst. 1989 im Pokalfinale mit Borussia Dortmund beim 4:1 gegen Bremen. Da bereitete ich auf diesem Weg ein Tor von Michael Lusch vor. Und eben beim EM-Finale ...

prisma: Es war also kein wirklich geplanter Ball?

Helmer: Ich könnte es behaupten, es kann mir ja schließlich keiner das Gegenteil beweisen. Aber nein. Es gab einfach in dieser Verlängerung die klare Anweisung von Berti Vogts: "Wenn Ihr da hinten den Ball habt, haut ihn vor. Haltet die Tschechen von unserem Tor weg." Ich habe auf ihn gehört. Und es hat geklappt. Manchmal ist Fußball ein einfaches Spiel.

prisma: Wo ordnen Sie den Titel persönlich ein?

Helmer: 1996 war ein außergewöhnliches Jahr. Wir haben mit den Bayern den UEFA-Cup gewonnen und dann eben diese EM. Mein Pokalsieg 1989, mein erster großer Titel – der steht für mich ganz oben. Und dann kommt schon die Europameisterschaft.

prisma: Weil eben auch Fußballgeschichte geschrieben wurde. Ein Titel auf der Insel!

Helmer: Ich hatte bis dahin nie in Wembley gespielt. Da ging für mich ein echter Traum in Erfüllung. Wobei man sagen muss: Es war wirklich eng damals. Nur gegen die Russen haben wir deutlich gewonnen. Alle anderen Spiele waren knapp. Das 0:0 gegen Italien zum Beispiel. Gegen Kroatien haben wir gewonnen, weil sie irgendwann nach einer roten Karte nur noch zu zehnt spielten. Und dann natürlich das Halbfinale gegen England.

prisma: Alle liefen auf dem Zahnfleisch. Es gab zahlreiche Verletzte wie Basler, Bobic und Kohler. Auch bei Ihnen soll nicht klar gewesen sein, ob sie spielen können.

Helmer: Ich hatte massive Probleme mit meinem Knie und schleppte mich von Spiel zu Spiel. Ich erinnere mich, dass ich gerne mal in den Tagen dazwischen nach Wimbledon gegangen wäre. Ein bisschen ausspannen. Aber selbst das ging nicht.

prisma: Boris Becker schied damals in Wimbledon früh aus und war beim EM-Finale im Stadion. War er danach auch in der Kabine?

Helmer: Nein, Helmut Kohl war da, und die kleine Kabine im Wembley Stadium war dann eigentlich voll. Zusammen mit Berti Vogts hat er den Whiskey getrunken, den Jürgen Kohler organisiert hatte. Das ist jedenfalls meine Erinnerung an die Zeit nach dem Schlusspfiff. Aber da hat, wie ich oft festgestellt habe in Gesprächen, jeder seine eigene.

prisma: Sogar der Queen haben Sie die Hand gegeben ...

Helmer: Wir sind uns ja nah: Wir haben am gleichen Tag Geburtstag (lacht). Aber im Ernst: Vor dem Spiel wollten wir uns eigentlich warmmachen. Dann kam die Queen, eine Kapelle spielte mitten auf dem Feld, und ich wollte eigentlich nur, dass es losgeht.

prisma: Mit dem "EM Doppelpass" endet jetzt nach sechs Jahren Ihr Engagement als "Doppelpass"-Moderator. Warum?

Helmer: Es stimmt. Sechs Jahre sind im Vergleich mit meinen Vorgängern ja sogar recht kurz. Ich habe mich ja mit dieser Sendung identifiziert und positioniert – und kann sagen, dass ich auch mit einem weinenden Auge gehe.

prisma: Wieso geht es dann nicht in dieser Konstellation weiter?

Helmer: Es war einfach der Wunsch nach einer Veränderung da. Dementsprechend läuft mein Vertrag jetzt aus. Aber das ist natürlich in Ordnung.

prisma: Wie fällt Ihr Rückblick aus?

Helmer: Der "Doppelpass" ist sicher zu meiner zweiten Familie geworden. Manche Mitarbeiter kenne ich seit vielen, vielen Jahren. Es war immer ein Highlight für mich, sie alle am Sonntagmorgen zu sehen. Jetzt freue ich mich wirklich auf die letzten Sendungen und auf das, was kommt.

prisma: Sie gehören dem Sender ja noch viel länger an.

Helmer: 20 Jahre, den Vorgängersender DSF mit eingerechnet. Eine lange Zeit. Ich erinnere mich gut an die Anfangszeit. Man hat mich damals machen lassen, obwohl einiges schiefging. Aber mir wurde das Vertrauen gegeben. Auch weil der Sender eben unbedingt einen Moderator haben wollte, der mal Spieler war. Dabei brachte das ehrlich gesagt später gar nicht mehr so viel. Es waren viele schöne Sendungen dabei, nicht nur der "Doppelpass". Auch "Hattrick" oder die "Spieltaganalyse" ...

prisma: Eines der besten Formate, die es je bei Sport1 gab. Da ging es um Fußball und nicht um Personalien.

Helmer: Das sehe ich auch so. Wir haben uns stundenlang vorbereitet. Szenen rauf und runter angesehen. Das war eine tolle Zeit.

prisma: An welche "Doppelpass"-Höhepunkte erinnern Sie sich gerne?

Helmer: Ich vertrat noch vor meinem dauerhaften Engagement als Moderator mal Jörg Wontorra. Und genau da wurde kurz vorher Bruno Labbadia entlassen, Müller-Wohlfahrt trat zurück und irgendetwas war auch mit Jürgen Klopp. Eine Nachrichtenflut direkt vor der Sendung. So etwas ist immer wieder mal passiert. Auch zum Ende dieser Saison, als kurz vor der Sendung Florian Kohfeldt bei Bremen entlassen wurde. Solche Situationen mochte ich immer gerne. Dinge, die eben in keinem Plan standen.

prisma: Ein Sonntagmorgen im August 2021. Spieltag Bundesliga. Und Sie werden nicht in München sein, sondern daheim. Wie wird das für Sie sein?

Helmer: Ehrlich, am Sonntagmorgen um 6.30 Uhr aufzustehen, war nicht immer einfach. Zumal sich mit Corona eben auch ein neuer Ablauf für den Sonntag ergeben hat. Das Publikum im Hotel, das hat mir bei den Sendungen im Studio schon sehr gefehlt. Die letzten beiden Jahre waren sicher extrem. Aber ich bin stolz darauf, in all der Zeit keine einzige Sendung verpasst zu haben. Ich war da, und ich habe es immer gerne gemacht.

prisma: Gibt es Pläne für die Zukunft?

Helmer: Die gibt es noch nicht wirklich. Aber es gibt ein paar Anfragen auch jenseits von Fernsehen.

prisma: Wie wäre es mit einem Wechsel an eine verantwortliche Stelle im Vereinsfußball? Der HSV braucht sicher immer gute Leute.

Helmer: Trainer wollte ich nie sein, und das wird sich auch nicht mehr ändern. Und ich habe auch keine betriebswirtschaftliche Ausbildung. Aber sicher kann ich in sportlichen Fragen behilflich sein. Wir werden sehen, was passiert.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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