"Und dann fand ich Helena und war völlig von den Socken!"

Regisseurin und Drehbuchautorin Nora Fingscheidt räumte mit ihrem ersten Spielfilm "Systemsprenger" gleich mehrere Preise ab und war sogar für den Oscar im Gespräch. prisma sprach mit ihr über das Sozialdrama.
"Systemsprenger" ist Ihr erster Spielfilm. Schon vor Fertigstellung gewannen Sie mit dem Drehbuch mehrere Preise, außerdem war er als "bester internationaler Spielfilm" bei den Oscars im Gespräch. Wie fühlte sich dieser plötzliche Erfolg für Sie an?
Das war natürlich überwältigend, aber Gott sei Dank kam nicht alles auf einmal. Die Drehbuchpreise waren ja immer so punktuell und kamen zum Teil in Stationen, wo es ganz gut war, dadurch noch einmal motiviert zu werden. Man weiß ja nie, wie ein Film wirklich wird. Drehbuchpreise sind großartig, aber der Film an sich muss dann noch einmal selber bestehen.
Inwiefern waren die Preise Motivation?
An Drehbuchpreisen ist toll, dass das Buch von Leuten gelesen wird, die einen nicht kennen und damit völlig neutral sind. Es ist ein ganz bewegendes Gefühl, wenn diese dann das Drehbuch gut finden und sagen, dass es die Geschichte wert ist, erzählt zu werden.
Woher haben Sie die Idee für "Systemsprenger" genommen? Was war der Auslöser, diese Geschichte zu erzählen?
Ich wollte schon immer mal einen Film über ein wütendes Mädchen machen. Und die ganzen Stereotypen vom lieben, braven Mädchen kaputt machen, weil ich in meiner Kindheit das anders empfunden habe und mich zum Beispiel ganz anders gefühlt habe als all diese hübschen Prinzessinnen oder Märchenfiguren. Ich hatte aber lange keine Geschichte dafür, das war nur die Grundenergie eines Charakters, keine Filmgeschichte. Und dann, viele Jahre später, während eines Dokumentarfilmdrehs über ein Haus für wohnungslose Frauen, zog dort eine 14-Jährige ein. Da war ich so geschockt. Die Sozialarbeiterin sagte nur zu mir: "Ach, die Systemsprenger, die können wir immer am 14. Geburtstag aufnehmen." Für mich haben sich in dem Moment zwei Pole getroffen, und ich dachte: Wow, darüber muss ich mehr herausfinden. Da hat sich etwas Gesellschaftlich-Relevantes mit etwas verbunden, das mir persönlich sehr am Herzen lag.
Wie würden Sie denn Ihre Hauptfigur selbst einordnen? Ist Benni eine tragische Heldin?
Tragische Heldin trifft es ganz gut. Benni hat für mich Heldencharakter, weil sie so stark ist und einfach nicht aufgibt. Sie will ja nicht bewusst Menschen schaden. Nur ist sie extrem abhängig von den Menschen um sie herum, und der permanente Wechsel von Institutionen ist für Kinder natürlich sehr traumatisierend. Wir sind schon als Erwachsene ziemlich überfordert, wenn wir fünfmal im Jahr umziehen. Während meiner Recherche für den Film habe ich einen elfjährigen Jungen kennengelernt, der bis dato schon in 51 verschiedenen Einrichtungen war. Daraus entsteht ein Teufelskreis: So ein Kind schleppt eine ziemliche Akte mit sich herum, und wenn da ein Kind kommt, das permanent den Rahmen sprengt, dann ist das eine große Herausforderung fürs System. Da darf sich auch gerne noch etwas verändern…
Wie schafft man es, so ein hartes Thema für einen Film anzugehen und dennoch Abstand zu bewahren?
Das ist schwierig gewesen, ich hab da leider keinen guten Tipp. Nach einer Woche Recherche in einer Institution hätte ich am liebsten alle Kinder mitgenommen. Da ich selbst Mutter bin, hat es mir regelmäßig das Herz gebrochen. Ich hab wahnsinnigen Respekt vor den Menschen, die tagtäglich in dem Sektor arbeiten und diese Balance schaffen. Die Leute haben ein naturgegebenes Talent, ich hab da einen Heidenrespekt vor.
War es eine besondere Herausforderung, mit so einer jungen Schauspielerin zusammenzuarbeiten?
Absolut, das war ein großes Risiko. Beim Drehbuchschreiben habe ich immer gedacht: Ich finde eh kein Kind, das diese Rolle spielen kann. So ein Kind gibt es vielleicht einmal in Deutschland. Und selbst wenn ich es finde, dann verbieten die Eltern ihm bestimmt, bei so einem Projekt mitzumachen. Der Film enthält wirklich harte Szenen, und die waren auch alle schon im Drehbuch. Und dann fand ich Helena und war völlig von den Socken! Ich habe mit ihrer Mutter lange Gespräche geführt, Helena und ich haben die Rolle sechs Monate vorbereitet. Das Wichtigste bei diesem Unterfangen ist, sicherzustellen, dass das Kind heile durch den Prozess kommt, im Idealfall auch noch etwas Tolles dabei lernt und sich und die Hauptfigur nicht durcheinanderbringt. Das war mit viel Arbeit, Spielen, gemeinsamem Tagebuchschreiben, kurzen Drehtagen und einem tollen Team verbunden. Und es hat geklappt, Gott sei Dank. Helena ist ein wunderbar gesundes junges Mädchen und wahnsinnig stolz auf den Film.
Also war Helena ein absoluter Glücksgriff.
Was Helena mitbringt, ist diese unfassbare Ambivalenz: Sie kann stark und gefährlich, aber auch lustig und verletzlich sein. Sie ist wahnsinnig begabt und hat eine filmische Qualität. Durch die fast weißen Haare und ihre nahezu durchsichtige Haut sticht sie hervor, und man schaut sie so gerne an.
Aktuell sind Sie für Dreharbeiten für eine Netflix-Produktion mit Sandra Bullock in den USA. Was ist das für ein Gefühl, nun international zu arbeiten?
Das ist ein Sprung und auch ein bisschen absurd. Ich muss mir immer wieder vor Augen führen, wie verrückt das alles ist. Das habe ich alles "Systemsprenger" zu verdanken. Helena hat ja danach auch mit Tom Hanks gedreht…
Sandra Bullock spielt eine ehemalige Gefängnisinsassin, die zurück ins Leben finden muss. Ist ernster Stoff eher Ihr Ding?
Ich habe glaube ich eine große Liebe für Außenseiter. Ich würde zwar auch gerne mal in anderen Genres arbeiten, aber die Stoffe, die mich ansprechen, sind oft sehr emotionale, bewegende Dramen. Randgruppen finde ich faszinierend und erzählenswert.
TV-TIPP
- "Systemsprenger"
- Montag, 17. Mai, 20.15 Uhr
- ZDF