Schriftstellerin Juli Zeh warnt: "Diese Art von öffentlicher, sozialer Dekonstruktion, die macht jeden krank"
Anlässlich des 75. Jubiläums des Grundgesetzes beleuchtete Markus Lanz in seiner ZDF-Sendung die Meinungsfreiheit in Deutschland. Schriftstellerin Juli Zeh und Juristin Nora Markard diskutierten über die aktuellen Herausforderungen und Gefahren für die Demokratie. Eine Umfrage zeigt, dass nur 40 Prozent der Menschen das Gefühl haben, ihre politische Meinung frei äußern zu können.
Die Meinungs- und Pressefreiheit
In seiner Sendung zitierte Lanz aus der neuesten Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach und des Medienforschungsinstituts Media Tenor, aus der hervorgeht, dass nur noch 40 Prozent der Menschen das Gefühl haben, ihre politische Meinung frei äußern zu können. "Was bedeutet das?", wollte Lanz von seinen Gästen wissen. Schriftstellerin Juli Zeh fand dazu ehrliche Worte und sagte: "Man hat ja momentan das Gefühl, (...) dass wir in so eine Situation kommen, wo man es nicht nur unerträglich findet, wenn jemand wirklich Grenzen überschreitet, (...), sondern schon dann, wenn Meinung zu stark abweicht."
Zeh sah hinter der fehlenden Debattenkultur im Land eine echte Gefahr und erläuterte, dass es sich um eine Situation handle, "in der Demokratie, so wie sie aufgestellt ist, in Schwierigkeiten kommt. Weil das ganze System ja eines ist, was auf das Aushandeln von verschiedenen Interessen, von verschiedenen Meinungen, fußt". Die Schrifstellerin ergänzte mit sorgenvollem Blick: "Wenn wir diesen Prozess nicht mehr frei und auch relativ hemmungslos betreiben dürfen, glaube ich, kommen wir tatsächlich an einen Punkt, wo sich das mit der Staatsform nicht mehr so hundertprozentig verträgt."
Juristin Nora Markard merkte daraufhin jedoch an, dass es auch wichtig sei, zu unterscheiden: "Was sind staatliche Beschränkungen (...) der Meinungsfreiheit und was ist Kritik, die mir entgegenschlägt?". Laut Markard sei die Meinungsfreiheit "kein Recht, meine Meinung unwidersprochen zu äußern". Sie forderte deshalb, wieder zu erlernen, die Kritik auch auszuhalten: "Kritik gehört eben zur Demokratie dazu und gehört zur Meinungsäußerungsfreiheit dazu."
Juli Zeh: "Diese Art von öffentlicher, sozialer Dekonstruktion, die macht jeden krank"
Mit Blick auf die aktuelle Umfrage, in der 44 Prozent der Befragten angaben, mit ihrer freien Meinungsäußerung vorsichtig zu sein, konterte Juli Zeh: "Ich glaube nicht, dass das der Befund ist, ehrlich gesagt." Zeh erklärte, dass sie hinter der scheinbar bedrohten Meinungsfreiheit einen anderen Grund erkenne: Es gebe ein Diskurs-Klima, das Menschen den Eindruck vermittelt, "dass man viel schneller Gefahr läuft, in kontroversen Meinungssituationen nicht mehr respektiert zu werden mit einer bestimmten Auffassung und ausgesondert zu werden." Mittlerweile sei laut Zeh bei vielen der Eindruck entstanden, "dass das einfach schneller geht als es früher der Fall war. Und ich glaube, das ist tatsächlich etwas, was Leute sehr feinfühlig detektieren". Als Beispiel nannte Zeh, dass Leute tatsächlich auch langjährige Freundschaften zerbrechen – zum Beispiel wegen unterschiedlichen Auffassungen zu Corona-Maßnahmen oder zur Ukraine-Frage.
Mit ernster Miene fügte die Schriftstellerin hinzu: "Die Schnelligkeit, mit der man sozusagen bereit ist, zu sagen: 'Du als Person gehst jetzt nicht mehr' (...), das ist schon ein Phänomen, wo ich sagen muss, das ist mir in den zwei bis drei Jahrzehnten davor nicht in so einer Inflation begegnet wie in den letzten Jahren." Als Lanz erklärte, dass Menschen im öffentlichen Leben besser darauf vorbereitet seien und damit umzugehen wüssten, schüttelte Juli Zeh entschlossen mit dem Kopf: "Man erlebt, wie Menschen darunter zusammenbrechen", sagte die Schriftstellerin. "Ich glaube, diese Art von öffentlicher, sozialer Dekonstruktion, die macht jeden krank!" Zeh plädierte deshalb dafür, mehr kontroverse Meinungen zuzulassen, da sich dahinter eine Stärkung der Demokratie befinde: "Die Kunst besteht doch darin, auch dem einen gewissen Freiraum zu geben, was uns eigentlich angreift."
Rechtswissenschaftler: Müssen kontroverse Meinungen aushalten
In dem Zusammenhang sprach die Runde auch über teils vorschnelle Aktionen der Polizei, wie jüngst die Unterbrechung eines türkischen Fanmarsches, bei dem viele Fußballfans den umstrittenen Wolfsgruß zeigten. Laut Rechtswissenschaftler Kai Ambos sei dies nicht gerechtfertigt gewesen, da der Wolfsgruß in Deutschland nicht als verboten gelte. Juli Zeh erklärte daraufhin, dass sie hinter der Handlung der Polizei einen "Ausdruck der Hilfslosigkeit" sehe, da sich die Beamten in gewissem Maße "getrieben" fühlen, "weil da draußen sozusagen auch ein Meinungsdruck ist, der sagt: 'Tut doch endlich was dagegen'." Ambos ordnete dies abschließend ein und erinnerte daran: "Meinungen, die man ablehnt, die sich aber noch im Rahmen der Verfassung bewegen, müssen wir aushalten."
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH