TV-Koch im Interview

Tim Raue: "Fernsehen hat die Tendenz, einen zu versauen"

von Maximilian Haase

Er gilt als einer der besten deutschen Köche, auch im Fernsehen fühlt sich Tim Raue immer wohler. Auch wenn er sagt: "Ich bin definitiv kein Showtyp."

Zwei Sterne, 19,5 Punkte im Gourmetführer GaultMillau, zuletzt Platz 31 unter den "World's 50 Best Restaurants": Das Berliner Restaurant Tim Raue darf gut und gerne als bestes deutsches Restaurant gelten; sein Namensgeber als einer der gefragtesten Starköche. An seiner Kochkunst lässt der 47-Jährige, einst in einfachen Verhältnissen in Kreuzberg aufgewachsen, seit einigen Jahren auch die Zuschauer im Fernsehen teilhaben – sei es in der VOX-Kochshow "Kitchen Impossible" an der Seite von Kumpel Tim Mälzer oder im SAT.1-Format "The Taste", das zuletzt eine Köchin aus dem Team Raue gewinnen konnte. Aktuell begleitet Raue das Publikum im MagentaTV-Original "Herr Raue reist" auf eine Genussreise um die Welt. In zwölf Episoden (monatlich zwei Folgen im Stream) geht es von der Türkei über New Orleans bis Thailand um sechs besondere Orte und ihre kulinarische Kultur. Warum wir in Deutschland nur selten authentischer Küche aus anderen Ländern begegnen, wie ihn seine Herkunft prägte – und weshalb der Döner in Berlin mehr Spaß macht als in Istanbul, erläutert Tim Raue im Interview.

prisma: Zunächst einmal Glückwunsch zum besten deutschen Restaurant in den "World's 50 Best Restaurants"! Wie fühlt sich das gerade in Zeiten der Pandemie an?

Tim Raue: Danke! Ich muss ehrlich sagen: Es gab Sachen, die wollte ich mit aller Macht. Denen ich alles in meinem Leben untergeordnet habe. Ich wollte zwei Sterne haben, ich wollte 19 Punkte im GaulMillau haben. Aber die "World's 50 Best" waren so weit weg. Dass wir da nun schon das sechste Jahr dabei sind, das ist unglaublich. Auch, dass anerkannt wurde, was wir in der Pandemie geschafft haben. Da hatte ich schon ein paar Tränen in den Augen. Damit werden wir dann im nächsten Jahr, wenn Reisen wieder möglich sind, Menschen aus aller Welt anlocken können.

prisma: In Ihrem neuen Fernsehformat bereisen Sie die Welt, um die Küchen verschiedener Länder zu erkunden. Worum ging es Ihnen dabei in erster Linie?

Raue: "Herr Raue reist" ist so etwas wie mein Altersformat (lacht). Es geht um Spaß, Lebensfreude und Kulinarik. Und darum, eine kulinarische Weltreise zu unternehmen, insbesondere für alle, die gerade nicht so viel reisen können. Ich sehe mich als Reiseguide, der versucht, Leute zu begeistern.

prisma: Sie sagen in der Sendung auch, dass man in Deutschland die wirkliche Küche verschiedener Länder gar nicht kennt.

Raue: Es macht einen großen Unterschied aus, ob der Deutsche reist – oder ob er in Deutschland ist. Ich behaupte: Die internationalen Küchen in Deutschland haben wenig Authentisches. Bei vielen indischen oder chinesischen Restaurants geht es nicht um eine sehr gute Küche. Sondern darum, dass Migranten einen Weg gesucht haben, Geld zu verdienen. In ihrer Anpassungsfähigkeit und für die Integration haben sie versucht, den Deutschen zu gefallen. Würde man das Schwein Süß-Sauer, das man hier isst, in Hongkong servieren, würden die einen direkt ins Meer werfen. Das Original ist zwar nicht ganz weit weg – aber die Details machen den Unterschied. Und dann wäre da noch das Preisverhältnis.

prisma: Welche Rolle spielen die Kosten?

Raue: Wenn du in einem indischen Restaurant ein Chicken Korma für zehn Euro bestellst, kann das gar nicht hinhauen. Das geht ja nur, wenn man ein gutes Huhn nimmt und nicht die billigsten Gewürze. Wenn man einmal in Mumbai war, geht man hier nicht mehr in die Eckbude. Aber den Gästen scheint das zu reichen, die Läden sind voll, Preis-Leistung stimmt. Das ist etwas, das ich schade finde. Und mit meiner Sendung wollte ich aufzeigen, was eigentlich den Unterschied ausmacht.

prisma: Glauben Sie dennoch, dass die Deutschen langsam kulinarisch dazu lernen?

Raue: Die Coronakrise war ein absoluter Booster für Qualität. Es wurde mehr für Essen ausgegeben – in der Pandemie bildeten sich die Leute kulinarisch. Vorher gab es genügend Restaurants, die den Gast auch verarschen wollten. Ich habe mit einem Schmunzeln wahrgenommen, dass es viele davon jetzt nicht mehr gibt. Der Gast überlegt mehr, wo er sein Geld ausgibt. Dabei geht es auch um Nachhaltigkeit und Verzicht auf bestimmt Zutaten etwa. Der Restaurantbesuch muss eine bewusste Entscheidung sein – mit der Bereitschaft, etwas zu erwarten und dafür zu investieren.

prisma: Ist das in anderen Ländern einfacher als hierzulande?

Raue: Fragt man in Österreich oder der Schweiz nach den wichtigsten Dingen im Leben, dann landen Essen und Trinken immer unter den Top 3. Als Form der Lebenskultur. In Deutschland ist das Auto wichtiger als das Essen. Reist der Deutsche hingegen, ist er viel anspruchsvoller und gibt mehr Geld aus. Mein Appell ist daher: Seid auf Reisen abenteuerlustiger – viele Orte versprechen kulinarische Paradiese!

prisma: Sie nähern sich den kulinarischen Erlebnissen bisweilen überaus poetisch. Mussten Sie sich das erst aneignen?

Raue: Ich bin ein einfaches Kerlchen. Wenn ich esse und trinke, dann sehe ich Bilder und Farben, habe bestimmte Assoziationen. Bewusst wahrgenommen habe ich das, als ich anfing, Wein zu trinken. In Weinverkostungsrunden redeten die Klugscheißer dann von "Südufer" und "Gepflückt im Morgengrauen" – und ich konnte damit überhaupt nichts anfangen. Als ich dann aber Ausdrücke wie "frisch gerittener Ledersattel" hörte, da blitzte es bei mir auf. Und ich fragte mich, was ich denn spüre: Glut, Feuer, karamellisierte Kirschen. Später habe ich mich immer weiter darauf verlassen, zu formulieren, was ich fühle, sehe und spüre.

prisma: Das half sicher auch dabei, Kulinarisches den Zuschauern im Fernsehen zu vermitteln ...

Raue: Klar, über die Jahre bekam ich im Fernsehen dafür immer mehr die Möglichkeit. Trainiert habe ich das allerdings nie. Ich mache das unbewusst – und das möchte ich auch so. Mir ist wichtig, dass Fernsehen authentisch bleibt.

prisma: Fernsehen ist ja meist Spektakel. Hatten Sie Zweifel, im TV auch das vermitteln können, was Ihnen wichtig ist?

Raue: Mein Kumpel Tim Mälzer hat mich da mehr oder weniger reingezogen. Viele Angebote habe ich auch nicht angenommen. Ich habe mich sehr lange vom Fernsehen ferngehalten. Irgendwann merkte ich, dass das gut ankommt. Dass wir durch die Öffentlichkeit auch mehr Gäste bekamen. Ein Showtyp bin ich definitiv nicht. Das ist nicht meine Natur. Ich habe schon mal so getan, als ob – und mich dabei gefühlt wie ein Trottel (lacht). Deshalb bin ich im Fernsehen authentisch. Ich würde nie irgendetwas spielen, weil das jemand von mir möchte.

prisma: Gibt es etwas, das Ihnen noch immer schwerfällt?

Raue: Ja. Menschen anzusprechen etwa. Da wollte ich mich auch weiterentwickeln. Man kann nicht immer gewinnen – ich verliere ständig! Durch therapeutische Sitzungen etwa konnte ich an mir arbeiten, konnte offener werden. Ich hatte sogar ein persönliches Coaching, wie man besser auf Menschen zugeht, die man nicht kennt. Ich finde es etwa furchtbar, an einer Haustür zu klingeln. Das sterbe ich tausend Tode. Persönlich hasse ich es, wenn jemand bei mir völlig unmotiviert klingelt. Es hat mir aber geholfen, dass ich etwa Protagonisten treffe, die wissen, dass sie ins Fernsehen kommen. Es kostet zwar eine Riesenüberwindung. Das finde ich aber auch ganz gut.

prisma: Wie nützt Ihnen das?

Raue: Man kann sich ja auch durchs Fernsehen treiben lassen und allen möglichen Quatsch machen. Und das vermeide ich komplett. Weil ich sage: Ich bin Koch. Und geht es ums Kochen, gehe ich in Kochjacke dahin. Bisweilen gibt es aber auch Anlässe, bei denen ich über Privates spreche – wenn es darum geht, was mir widerfahren ist. Werden beispielsweise Kindesmisshandlung oder das Aufwachsen in Armut thematisiert, nutze ich meine Stimme. Ich sehe mich nicht als prominent an, aber als jemand, der für die Betroffenen sprechen und Hilfe einfordern kann. Aber prinzipiell gilt: Das Fernsehen hat die Tendenz, einen zu versauen.

prisma: Inwiefern?

Raue: Man verdient einen Haufen Geld – für verhältnismäßig wenig Arbeit. Es gibt keine 16-Stunden-Tage, an denen man permanent am Limit ist und unter Druck steht. Zum anderen wird man überall hingeshuttelt und -geflogen und umgarnt. Da sah ich zu Beginn schon, was das mit dem ein oder anderen macht. Das ist mir aber klar. Ich stehe mit beiden Beinen auf dem Boden, ich weiß, wer ich bin. Dabei nehme ich mich nicht allzu ernst und halte mich für einen von vielen. Ich bin jemand, der Hilfe schnell annimmt. Das ist Teil meiner Persönlichkeit – auch wenn die Verlockungen im Fernsehen groß sind.

prisma: Gelingt es Ihnen dabei, die Sphären Privates, Küche und Fernsehen nicht miteinander in Kontakt kommen zu lassen?

Raue: Arbeit und Privates trenne ich. Und Fernsehen ist etwas anderes, als in der Küche zu stehen. Die Küche ist für mich etwas Existenzielles, das Essenzielle. Jeder Teller muss da perfekt sein. Im Fernsehen weiß ich, dass Fehler passieren. Aber ich bin sehr glücklich mit den Formaten, die ich mache. Ich habe mich für Sendungen entschieden, in denen ich mich wiederfinde. Von "Kitchen Impossible" bis "The Taste" geht es immer darum, zu schmecken. Das ist mir wichtig. Ebenso, eine Hilfestellung zu geben, ein Mentor zu sein.

prisma: Müssen Sie dabei – etwa in der neuen Sendung – auch auf Dinge zu sprechen kommen, die Ihnen absolut nicht zusagen?

Raue: Manche haben mich gefragt, warum ich nicht auch mal zeige, wo es richtig schlimm ist. Das ist nicht meine Formatidee, das bin ich nicht. Warum sollte ich den Leuten sagen: Um Gottes willen, geht da nicht hin! Ich kann aber etwa feststellen: Der Döner in Berlin macht mir mehr Spaß als in Istanbul.

prisma: Das müssen Sie ausführen!

Raue: Selbst wenn das Fleisch hier nicht so exzellent ist wie in Istanbul – ich kann mir einfach nichts ohne Soße vorstellen. Mein Leben begann mit Ketchup und Majo und Senf, und das soll bitte auch so enden. Istanbul hat kulinarisch ganz wundervolle Sachen zu bieten. Die Stadt bietet so unfassbar viel. Bitte geht ins Namli frühstücken – das ist das Frühstück eures Lebens! Aber der Döner wäre das Letzte, was ich da probieren würde. Da werden die Tomaten und Zwiebeln relativ rough geschnitten. Wenn ich das mit dem vergleiche, was wir in Berlin kulturell geschaffen haben – da ist bei meinen Lieblingsdönern auch Schafskäse und frischer Zitronensaft. Mit Kräuter-, Knoblauch- oder scharfer Soße entsteht ein viel komplexerer und vielschichtigerer Döner. Das Fleisch ist im Döner nicht der alleinige Star.

prisma: Sie sind in Berlin-Kreuzberg aufgewachsen. Hat Sie das auch kulinarisch geprägt?

Raue: Geprägt hat mich vor allem die Gastfreundschaft. Die Familien meiner Freunde waren auch einfache Arbeiter, die hatten nicht viel, wirtschaftlich gesehen. Meist gab es da viele Mäuler zu stopfen – trotzdem haben sie mich mit nach Hause genommen und das Wenige, das sie hatten, geteilt. Das hat mich geprägt – allerdings nicht kulinarisch. Es sind Geschmäcker und Zubereitungen, die mir liegen, die ich auch selbst gerne esse. Eine Herzensangelegenheit. In meine Küche habe ich das aber nicht übernommen.

prisma: Was mögen Sie persönlich an der türkischen Küche?

Raue: Es gibt Gerichte, etwa Teller mit scharf gegrillten Auberginen, türkischem Joghurt und frisch gebackenem Brot – das ist wie ein Kaschmir-Cape, das man sich im Winter überwirft. Oder manche Döner-Teller, bei denen man die Hitze und die Würzigkeit Anatoliens am Gaumen spürt, die Wiesen und die Lämmer riecht. Solche Teller sind unfassbar stark. Sie sind mehr als nur sehr gute Nahrungsmittel. Sie nähren die Seele, nehmen mit auf eine Reise. Was kann ein Essen Schöneres machen?


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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