Kriegsreporterin Nadja Kriewald über das Leben zwischen brutalen Angriffen
Die erfahrene Auslandsreporterin Nadja Kriewald berichtet derzeit für RTL und ntv. Die Journalistin lebt und arbeitet in der Ukraine und berichtet aus dem vom Krieg gebeutelten Land. Wie es ist, an einem Ort zu sein, der täglich brutal attackiert wird, hat Nadja Kriewald im Interview mit prisma besprochen.
Im Dezember 1992 gab Nadja Kriewald ihr TV-Debüt bei ntv. Über die letzten 30 Jahre arbeitete sie bei RTL und ntv für zahlreiche Formate vor und hinter der Kamera. Von 2003 bis 2007 moderierte Nadja Kriewald die Sendung "Die Woche", seit 1997 ist sie verantwortlich für die Sendung "Auslandsreport". Seit Kriegsbeginn hält sich die privat in Berlin lebende Journalistin beruflich vorwiegend in der Ukraine auf. Im Interview erzählt sie, wie sie den Krieg vor Ort wahrnimmt, in welchen Momenten ihr wirklich mulmig zumute war und warum sie glaubt, dass man die Lage der Ukraine im westlichen Ausland als zu optimistisch einschätzt.
prisma: Wie viele Tage haben Sie während des ersten Kriegsjahres in der Ukraine verbracht?
Nadja Kriewald: Gezählt habe ich sie nicht, aber es waren insgesamt über drei Monate. In der Regel bin ich zwischen zwei und drei Wochen hier und danach wieder eine Weile in Deutschland. Jetzt gerade fahre ich mit dem Auto von Lwiw nach Kiew, von dort aus geht es dann weiter in den Süden und Südosten. Es ist mein siebter Ukraine-Einsatz, seit der Krieg begonnen hat.
prisma: Wann waren Sie das erste Mal dort?
Nadja Kriewald: Zwei Tage vor Kriegsbeginn bin ich mit dem wahrscheinlich letzten Flug, der von Deutschland in die Ukraine ging, nach Kiew geflogen. Damals haben wir nicht damit gerechnet, dass es wirklich losgehen würde.
"Wir sind dann schnell in einen Schutzkeller geflohen"
prisma: In welcher Situation hatten Sie über dieses Jahr am meisten Angst?
Nadja Kriewald: Wir haben in einer kleinen Stadt südlich von Saporischschja gedreht und gewartet, dass uns der Bürgermeister abholt. Als wir noch an einem Checkpoint standen, ging der Beschuss los. Wir sind dann schnell in einen Schutzkeller geflohen. Das war die Situation, die mit am brenzligsten war. Aber auch in Cherson kurz nach der Befreiung hatte ich ein mulmiges Gefühl. Da wurde gefeiert, aber man hörte die russische Artillerie vom anderen Ufer des Dnipro feuern. Und ich wusste, wir sind locker in Artillerie-Reichweite ...
prisma: Und in Kiew, als der Krieg losging und die Stadt von den Russen eingenommen werden sollte, hatten Sie da nicht auch große Angst?
Nadja Kriewald: Natürlich war das nicht ohne. Mein Kameramann und ich standen auf einem Balkon mit Blick auf den Maidan. Es hieß, dass schon russische Spezialeinheiten in der Stadt wären und Jagd auf Präsident Selenskyj machen würden. Um zwei Uhr nachts waren wir dann fertig mit unserer letzten Schalte. Dann sind wir runtergegangen, um in unser Hotel zurückzulaufen. Es waren nur ein paar hundert Meter, aber wir haben uns die ganze Zeit umgeschaut, weil die Lage in der Stadt sehr unklar war. Im Hotel angekommen, gab es dann die ganze Nacht Luftangriffe. Unsere Geschäftsführung hat entschieden, dass wir die Stadt verlassen sollen. Wir sind dann mit drei Reporterteams im Schneckentempo rausgefahren aus Kiew und standen in den langen Autoschlangen Richtung Westen. Auf der Gegenfahrbahn fuhren die ukrainischen Soldaten in Richtung Front.
prisma: Wie hat sich Ihr Gefühl diesem Krieg gegenüber verändert?
Nadja Kriewald: Ganz am Anfang dachten wir, es würde nur wenige Tage dauern, bis der Krieg vorbei und die Ukraine überrollt sei. Das dachten auch nahezu alle Militärexperten. Doch dann ist der russische Konvoi auf dem Weg nach Kiew zum Stehen gekommen. Trotzdem glaubten wir auch die kommenden Wochen: Wie sollen die Ukrainer das schaffen? Als dann die Gegenoffensive funktionierte, als man merkte, die Ukrainer erobern Gebiete zurück und bekommen immer mehr Waffen aus dem Westen – da gab es hier ein fast euphorisches Gefühl. Vor allem, als wir die Lage nach der Befreiung von Cherson miterleben durften – das waren einige der beeindruckendsten Tage, die ich erlebt habe.
Die Sorgen vor der neuen Offensive
prisma: Sie meinen, dass man als Journalistin schon mit diesem angegriffenen Land fühlt, aus dem man berichtet?
Nadja Kriewald: Die Frage, wer hier der Aggressor ist, ist in diesem Krieg ja sehr klar. Man spürt es auch vor Ort, als die Menschen nach der Befreiung von Cherson mit ihren ukrainischen Fahnen aus den Häusern kamen. Präsident Selenskyj war nach kurzer Zeit vor Ort, was eine sehr brenzlige Aktion war. Es ist schwer, bei solchen Erlebnissen nicht mit den Menschen vor Ort zu fühlen. Aber im Moment sieht es eher wieder schlecht aus.
prisma: Sie meinen, was die Entwicklung des Krieges betrifft?
Nadja Kriewald: Alle rechnen mit einer neuen Offensive rund um den Jahrestag. Man weiß nicht, was Putin plant. Ob er sich wirklich nur auf den Süden und Osten beschränkt oder ob es zum Beispiel auch wieder zu Bombardierungen Kiews kommt.
prisma: Warum fahren Sie jetzt erst mal wieder in den Süden?
Nadja Kriewald: Ich mache zusätzlich zur aktuellen Berichterstattung noch eine knapp einstündige Doku (die "News Reportage: Ein Jahr Krieg in der Ukraine", 23. Februar, 22.05 Uhr, bei ntv, d. Red.), in der ich Leute besuche, die ich im Laufe des Krieges kennengelernt und mit denen ich teilweise öfter gesprochen habe. Einige von ihnen treffe ich jetzt wieder: von der 17-jährigen Schülerin bis zur Polizistin, die mutmaßliche Kriegsverbrechen aufklärt. Es wird ein Porträt über Menschen, die seit einem Jahr mit dem Krieg leben müssen.
In der Ukraine glauben fast alle an den Sieg
prisma: Wie ist die Stimmung der Ukrainer nach einem Jahr Krieg?
Nadja Kriewald: Was immer wieder überraschend ist – dass wirklich alle hier fest an einen Sieg glauben. Egal, mit wem man spricht. Man hofft, dass es mit dem EU-Beitritt schnell vorangeht. Zum anderen ist da natürlich auch Angst. Die Angst davor, dass es jetzt wirklich zu einer großen russischen Offensive kommt. Ich habe gestern mit Schülern im deutschen Gymnasium von Lwiw gesprochen, deren Väter an der Front kämpfen. Drei Jungs, 14 und 15 Jahre alt. Zwei der Väter kämpfen an der Front in Bachmut. Die Jungen konnten kaum ihre Tränen zurückhalten beim Erzählen, weil sie nicht wissen, ob ihre Väter wiederkehren. Jederzeit kann eine schlechte Nachricht kommen. Auf dem Weg zur Schule, sagten sie, laufen sie an dem Soldatenfriedhof vorbei. Da sind viele frische Gräber aus dem Januar und von Anfang Februar. Die Jungen haben furchtbare Angst, dass ihre Väter da auch bald liegen.
prisma: Glauben Sie, dass man vor Ort eine mögliche Entwicklung des Krieges besser einschätzten kann als von Deutschland aus?
Nadja Kriewald: Ich weiß es nicht, aber ich sehe die Lage deutlich pessimistischer als viele Militärstrategen. In Deutschland sind viele sehr optimistisch, was einen für die Ukraine günstigen Kriegsverlauf betrifft. Wenn man aber sieht, wie viele Menschenleben hier verloren gehen, kann man ein solches optimistisches Gefühl nicht teilen. Die Menschen leiden extrem, und irgendwann ist die Kraft, sind die Ressourcen erschöpft. Jeden Tag Krieg, ein Jahr lang – und jeden Tag sterben Soldaten und andere Menschen, die man hier kennt. Ich kann mir vorstellen, dass die Moral irgendwann kippt und man nur noch will, dass es vorbei ist. Es überrascht mich, dass darüber kaum jemand im Westen spricht. Es überrascht mich aber auch, dass fast alle Menschen hier tatsächlich – derzeit – noch durchhalten und sagen: "Ja, wir müssen kämpfen – für unsere Freiheit".
"Russland ist längst ein Überwachungsstaat"
prisma: Als der Krieg anfing, haben viele im Westen auf Proteste in Russland und einen Regierungswechsel gehofft. Auch auf den Sanktionen ruhten Hoffnungen. Doch es ist wenig passiert. Wundert Sie das – auch in Anbetracht sehr vieler russischer Opfer?
Nadja Kriewald: Nein, es wundert mich nicht. Weil vorher schon klar war, dass Putin keine kritische Berichterstattung zulässt. Man hoffte natürlich, dass die Menschen in Russland protestieren – und sie haben es ja auch getan. Kleine Versuche, die zum Scheitern verurteilt waren. Russland ist längst ein Überwachungsstaat. Es ist nicht möglich, etwas gegen den Krieg zu tun – außer in großer Zahl das Land zu verlassen. Aber das wird Putin nicht zu einer Umkehr bewegen.
prisma: Können Sie sich vorstellen, dass immer weitere russische Soldaten ins Gefecht geworfen werden?
Nadja Kriewald: Davon muss man leider ausgehen. Es ist ein Vorteil – so zynisch das klingt -, den Putin gegenüber Selenskyj hat. Putin verfügt über ein schier unerschöpfliches Reservoir neuer Soldaten. Die russische Bevölkerung ist einfach sehr viel größer als die der Ukraine. Putin kann die Männer an die Front zwingen. Etwas, das in der Ukraine – einer Demokratie – nicht so leicht möglich ist.
"Ich hoffe, dass der Krieg nicht über dieses Jahr hinaus geht"
prisma: Glauben Sie, dass sich der Krieg im Jahr 2023 entscheiden wird – und welche Rolle spielen die Waffenlieferungen des Westens dabei?
Nadja Kriewald:c aber eine Prognose dazu wäre Kaffeesatz-Leserei. Entscheidend ist, was jetzt um den Jahrestag geschieht. Ebenso wichtig ist, dass der Westen weiter an der Seite Selenskyjs bleibt. Was ich allerdings nicht glaube, ist, dass sich etwas ändern würde, wenn es Putin nicht mehr gäbe. Die öffentliche Meinung in Russland ist derart aufgepeitscht, dass es auch unter einer anderen Regierung kein Friedensangebot im Sinne eines russischen Rückzuges gäbe.
prisma: Sind wir ein Jahr nach Kriegsbeginn weiter von einer Lösung des Konflikts entfernt als am Anfang?
Nadja Kriewald: Ja, das muss man leider so sagen. Verhandlungen wird es von russischer Seite erst geben, wenn Putin unter Druck gerät. Das ist er momentan aber nicht. Würde die Ukraine dazu gebracht, dass sie weite Gebiete ihres Landes zurückerobern kann, dann wäre Putin unter Druck. Aber diese Situation sehe ich momentan nicht.
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH