Zu der Zeit versucht die britische Filmindustrie sich an Hollywood zu orientieren. Man schafft eine staatliche Filmförderung, um dem amerikanischen Export wirkungsvolles Kino entgegenzusetzen. Carol Reed erweist sich als eines der größten Talente dieser neuen Phase, er sorgt mit dafür, dass englische Filme wieder nationalen Charakter tragen und nationale Themen behandelt werden. Zwei Filme, die er dreht, sind dafür und für seinen Stil programmatisch: "Die Sterne blicken herab" (1939), eine ungeschminkte Darstellung des Bergarbeiterlebens und der Agententhriller "Night Train to Munich" (1940). Seine dokumentarische Beobachtungsgabe kann Reed in der Filmabteilung der Armee einsetzen, er dreht 1944 "The Way Ahead" über den Alltag der Soldaten und - gemeinsam mit Garson Kanin den mit dem Oscar ausgezeichneten Kompilationsfilm "The True Glory" (1945) über den Krieg in Europa.
Dieser dokumentarische Blick ist auch in seinen Nachkriegsfilmen zu erkennen: "Ausgestoßen" ("Odd Man Out", 1946) mit James Mason in einer seiner ganz großen Rollen. Als Offizier der Untergrundorganisation IRA wird er bei einem Banküberfall verwundet, die fliehenden Kameraden verpasst er und zieht sich schwer verletzt und langsam verblutend quer durch Dublin zu einem Versteck, wo er langsam stirbt. Carol Reed hatte sich hier selbst übertroffen: Dieses Dublin, in dem ein betrunkener Maler einen Totkranken als sensationelle Porträtvorlage verwendet, ist ein archaischer Albtraum, der alle unmittelbaren politischen Bezüge hinter sich lässt. Der Erfolg des Films fördert Reeds Karriere, Alexander Korda nimmt ihn unter Vertrag.
Ähnlich dokumentarisch sind auch die nächsten Filme von Reed angelegt wie "Kleines Herz in Not" (1948) und "Gefährlicher Urlaub" (1953), die präzise politische und gesellschaftskritische Stellung nehmen und die Stimmung der Nachkriegsjahre repräsentieren. Eine Sonderstellung aber nimmt "Der dritte Mann" (1949) ein. Harry Lime, Holly Martins, das Mädchen Anna und der Militärpolizist Calloway sind Hauptfiguren in einem der berühmtesten Nachkriegsfilme. Ein Mann kommt nach Wien, um seinen alten Freund wiederzusehen, doch er kommt gerade zur Beerdigung zurecht. Allerdings ist dieser Harry Lime alias Orson Welles nicht tot, er geistert als finstere Gestalt durch die Straßen von Wien, schreckt und erschreckt - noch bevor man ihn zu Gesicht bekommt.
Bei seinen späteren Filmen, dem Zirkusfilm "Trapez" (1956), dem "Schlüssel" (1958), dem Agentenfilm "Unser Mann in Havanna" (1959), "Der zweite Mann" (1963), "Michelangelo - Inferno und Ekstase" (1964), dem Oscar-gekrönten Musical "Oliver!" nach Charles Dickens wie auch dem "Indianer" von 1970 spürt man dagegen den kommerziellen Druck. Doch Carol Reed bleibt für den britischen Film und die europäische Filmgeschichte überhaupt von Bedeutung. Seine Filme stehen mehr in der Tradition des italienischen Neorealismus als in der des britischen Kinos. Dreimal hat er mit Graham Greene zusammengearbeitet: bei "Kleines Herz in Not", "Der dritte Mann" und "Unser Mann in Havanna". 1952 wird er von der britischen Königin zum Ritter geschlagen, 1976 stirbt er fast 70-jährig.
Weitere Filme von Carol Reed: "Kipps - Roman eines einfachen Menschen" (1941), "Der Verdammte der Inseln" (1951), "Voller Wunder ist das Leben" (1956) und "Ein liebenswerter Schatten" (1971).