WELT-Reporterin im Interview

Tatjana Ohm: "Fast täglich gibt es mehrmals Luftalarm"

08.04.2022, 13.16 Uhr
von Frank Rauscher

Die erfahrene TV-Reporterin Tatjana Ohm berichtet seit einigen Wochen aus der ukrainischen Stadt Lwiw. "In jeder Minute muss uns bewusst sein, dass Propaganda und Lügen ein wichtiger Teil dieses Krieges sind", erklärt sie im Interview.

"1992 bin ich durch den Krieg in meiner Heimat Journalistin geworden", erinnert sich die Deutsch-Bosnierin Tatjana Ohm. Die 52-Jährige, die jahrelang als Kriegsreporterin und Auslandskorrespondentin tätig war, ist heute Chefmoderatorin und Mitglied der Chefredaktion des Nachrichtensenders WELT. Nun berichtet die erfahrene Journalistin wieder als Korrespondentin aus einem Kriegsgebiet: Für ihren Sender ist sie seit einigen Wochen in der westukrainischen Stadt Lwiw tätig, wo sie nach eigenem Bekunden auf Menschen trifft, die ihr "bewundernswert gefestigt in ihrer Haltung" erscheinen, Menschen, die "solange es geht, Normalität leben und dem Krieg trotzen".

Im Interview gibt Tatjana Ohm Einblick in ihren derzeitigen Alltag in Lwiw und verrät einiges über ihre Berufseinstellung. "Journalismus ist für mich kein Beruf. Es ist Berufung", betont sie. "Dabei zu sein, wenn Geschichte gemacht wird, Menschen zu befragen und das Geschehene zu hinterfragen: Ich bin immer noch dankbar, dass mein Weg mich in diese Profession geführt hat."

prisma: Ihre Karriere begann vor fast genau 30 Jahren als Kriegsberichterstatterin aus Bosnien-Herzegowina. Nun sind Sie für WELT im ukrainischen Lwiw, um auch dort vom Krieg zu berichten. Vermutlich hätten Sie das als Chefmoderatorin nicht tun müssen. Was hat Sie dazu bewegt?

Tatjana Ohm: Gerade als jemand, der "Chef" im Titel trägt, und damit Verantwortung und Vorbildfunktion hat, habe ich es schon auch als Verpflichtung empfunden, neben den vielen anderen Kolleginnen und Kollegen von WELT und BILD, die derzeit aus der und über die Ukraine berichten, dies auch selbst zu tun. Der russische Angriffskrieg ist ein historisches Ereignis, darüber vor Ort zu berichten, ist mir auch deshalb besonders wichtig, weil sich hier ein Kreis schließt. Denn tatsächlich war meine erste Erfahrung als Kriegsberichterstatterin Anfang der 90er im Bosnienkrieg.

prisma: Wie gehen die Menschen im Westen der Ukraine mit diesem Krieg um?

Ohm: Die Menschen in Lwiw scheinen mir bewundernswert gefestigt in ihrer Haltung: Solange es geht, Normalität leben und dem Krieg trotzen. Sich aber auch gleichzeitig mit unglaublichem Engagement um die Flüchtlinge kümmern, die aus den umkämpften Landesteilen hierher geflohen sind.

prisma: Gibt es auch Hass?

Ohm: Hass habe ich bislang noch nicht wahrgenommen. Wut ja, vor allem aber den unbedingten Willen, sich nicht besiegen zu lassen.

prisma: Inwiefern haben sich Haltung und Stimmung in Lwiw unter dem Eindruck der Bilder der jüngsten Gräuel aus Butscha verändert?

Ohm: Da sind unbeschreibliches Entsetzen, Trauer und Mitgefühl mit den Überlebenden und Hinterbliebenen. Der Wille, zu siegen, scheint durch die Gräueltaten und die Bilder der ermordeten Zivilisten noch einmal angefacht.

prisma: Setzt sich nicht auch in Lwiw die Angst durch, dass so etwas überall im Land passieren kann?

Ohm: Hier in Lwiw ist diese Angst aufgrund der Lage der Stadt bisher noch nicht so groß. Die Menschen hier versuchen, so weit es geht, normal weiterzuleben, sich ihren Alltag nicht nehmen zu lassen.

prisma: Die Stadt, genauer gesagt der Flughafen, war auch bereits Ziel von Raketenangriffen. Wie sicher fühlen Sie sich als Reporterin in Lwiw?

Ohm: Hier in Lwiw hatte ich bislang keine Angst um mein Leben oder die Sicherheit meines Teams. Der Angriff auf den Flughafen war hör- und sichtbar, aber im Zentrum selbst sind zivile Einrichtungen bislang nicht angegriffen worden. Das ermöglicht uns Journalisten, hier relativ normal zu arbeiten. Trotzdem: Fast täglich gibt es mehrmals Luftalarm. Beim Heulen der Sirenen, beim Schutzsuchen im Bunker wird einem dann schon deutlich, dass Lwiw eine Stadt im Krieg ist. Zum Glück bislang nicht in dem Maße und mit dem Schrecken, der in anderen ukrainischen Regionen herrscht.

prisma: Mit welchen Erwartungen begegnen die Bewohner der Stadt der deutschen TV-Reporterin?

Ohm: Die Menschen erzählen ihre Geschichten, und ich erlebe viel Dankbarkeit. Vor einigen Tagen sind zwei junge Frauen auf mich zugekommen, nach einem kurzen Gespräch haben sie mir einen kleinen Blumenstrauß geschenkt und sich bedankt, dass wir Journalisten da sind und über das Schicksal ihres Landes berichten. Das hat mich sehr berührt."

prisma: An den Debatten um die Bilder aus Butscha wird überdeutlich, dass dies mehr denn je auch ein Krieg der Medien ist. Es wird nicht nur zwischen den beteiligten Staaten Russland und Ukraine um die Deutungshoheit gekämpft – es wird auch hierzulande viel über Fragen von Wahrheit und Fälschung gestritten, vor allem in den sozialen Medien. Das heißt: Die Verantwortung für Sie als Reporterin ist gewaltig. Inwiefern belastet das Ihre Arbeit?

Ohm: Ich empfinde das nicht als belastend. Es kostet mehr Zeit, die vielen Quellen zu überprüfen, gegenzuchecken, noch mal weitere Quellen zu suchen. Das ist der Kern unserer journalistischen Arbeit: Zweimal hinschauen, mindestens. Nachhaken, skeptisch bleiben. In jeder Minute muss uns bewusst sein, dass Propaganda und Lügen ein wichtiger Teil dieses Krieges sind.

prisma: Hand aufs Herz: Wie schwer fällt es Ihnen angesichts des allgegenwärtigen Leids die journalistische Distanz zu wahren?

Ohm: Ganz ehrlich, während ich arbeite, also in einem Interview bin oder Informationen zusammentrage, kann ich das professionell alles handhaben. Aber natürlich, die Geschichten der Menschen, die Bilder von Beerdigungen ganz junger Männer, getötete Zivilisten, Kinder, was gerade aus Butscha und anderen Orten bekannt wird, ist so grauenhaft, dass es mich natürlich nicht unberührt lässt.

prisma: Sie sagten, dass Sie 1992 durch den Krieg in Ihrer bosnischen Heimat Journalistin geworden seien. Heute, 30 Jahre später, ist vieles im Journalismus komplizierter geworden. Warum ist das noch immer Ihr Traumberuf?

Ohm: Journalismus ist für mich kein Beruf. Es ist Berufung. Das empfinde ich auch nach 30 Jahren noch so. Dabei zu sein, wenn Geschichte gemacht wird, Menschen zu befragen und das Geschehene zu hinterfragen: Ich bin immer noch dankbar, dass mein Weg mich in diese Profession geführt hat.

prisma: Wie geht es nun weiter für Sie persönlich: Wie lange werden Sie vor Ort im Einsatz bleiben?

Ohm: Offen gestanden, so ganz genau weiß ich das gerade gar nicht. Bis Ostern aber wohl auf jeden Fall.

prisma: Gibt es irgendetwas, das Ihnen Hoffnung macht, dieser Krieg könnte bald beendet sein?

Ohm: Ganz schwierig. Und ganz ehrlich: nein. Im Moment sehe ich den Hoffnungsschimmer am Horizont nicht.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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