Campino im Interview

Die Toten Hosen in Ost-Berlin: "Was zählte, war das Wagnis"

12.04.2022, 16.49 Uhr
von Kai-Oliver Derks

Vor 39 Jahren spielten die Toten Hosen ein Konzert in der DDR, genauer gesagt in Ost-Berlin. Im Interview erinnert sich Frontmann Campino an das Geheimkonzert, das nun auch Thema einer ARD-Doku ist.

Sie waren jung, sie waren Punks, und Grenzen waren da, um sie zu überschreiten. "Was zählte, war das Wagnis", erinnert sich Campino heute an jenen Tag im März 1983, als er sich mit seiner frisch gegründeten Band Die Toten Hosen aufmachte gen Osten – in die DDR. In einer Kirche in Ost-Berlin trafen sie auf die Ost-Punkband Planlos und gaben gemeinsam ein Geheimkonzert. Ein befreundeter Bandmanager hatte die Planung dieses Coups übernommen. Ein paar Jahre später versuchten es die Hosen sogar noch einmal, diesmal intensiver beobachtet von der Stasi. In der Dokumentation "Auswärtsspiel – Die Toten Hosen in Ost-Berlin" (Mittwoch, 13. April, 22.50 Uhr, ARD) erinnern sich alle Beteiligten an jene Begegnungen von damals, bei der sich Punks aus Ost und West für einen Moment wie eins fühlen durften. Es floss reichlich Eierlikör, der Tote-Hosen-Frontmann erinnert sich ... Und er gibt einen ein Blick in seine Gefühlswelt in diesen fürchterlichen Tagen.

prisma: Wieviel Eierlikör hat der 20 Jahre junge Campino vertragen?

Campino: Leider kann ich mich an keine exakte Zahl erinnern, was natürlich auch meinem damaligen Zustand geschuldet ist. Aber es ging ja eh nie um die Menge. Wir wollten einfach alle zusammen Spaß haben, und da war der Eierlikör genau richtig. Der konnte was. Den musste man sich nicht runterzwingen. Das war außerdem eine gute Gelegenheit, die Zwangsdevisen, die man umtauschen musste, irgendwie loszuwerden.

prisma: Wie darf man sich den Campino von damals vorstellen?

Campino: Es fällt mir schwer, mich selbst zu beschreiben, da müssten Sie besser die anderen fragen. Was sicher ist: Ich habe meine Unsicherheiten durch Großmäuligkeit kaschiert. Ein bisschen spielte ich auch immer die Rolle des Clowns. Außerdem war ich immer sehr abenteuerlustig, das zeigt sich ja auch bei unserer Ost-Berlin Reise ...

prisma: Sie hatten also keine Angst, da rüberzufahren?

Campino: Nein. Was zählte, war das Wagnis. Ich hatte keine Bedenken. Wir alle hielten uns aber auch an das, was zu tun war. Es gab durchaus den nötigen Funken Vernunft in uns. Es war klar: Wenn wir dort negativ aufgefallen wären und Ärger machten, wären wir wahrscheinlich bald wieder raus und nach Hause gekommen. Aber die Leute, die in der DDR gelebt und uns eingeladen hatten, würden womöglich jahrelang in den Knast gehen. Das hielt uns davon ab, zu randalieren, eine große Nummer abzuziehen. Als wir zurück in Westdeutschland waren, haben wir lange nichts über das Konzert erzählt, um die Leute nicht zu gefährden, die das damals organisierten.

prisma: War es alles in allem nicht vielleicht doch ein bisschen unbeschwert?

Campino: Eigentlich nicht. Aber solche Aktionen waren stets Teil unserer Geschichte. Sehen Sie, wir waren als Band immer auf der Suche, wollten immer Begegnungen mit der jeweiligen Untergrund-Szene knüpfen.

prisma: Welche anderen Orte fallen Ihnen da ein?

Campino: Wir waren in einigen autokratischen Ländern. Ob es nun die DDR war, Polen, Kuba oder später Myanmar und Tadschikistan. Wir setzten uns immer zum Ziel, die Polizei ein bisschen an der Nase herumzuführen. Vor allem aber wollten wir die Leute dort durch Präsenz, Loyalität und Solidarität stärken. Auch in Peking ist es uns erst vor wenigen Jahren gelungen, abseits unseres normalen Konzerts in die Stadt zu fahren und einen Punk-Club ausfindig zu machen. Dort haben wir ein richtiges Set vor den Pekinger Punks abgeliefert. Klar, solche Aktionen bergen immer ein gewisses Risiko, aber es stand stets in Relation zu dem, was wir erreichen wollten. Momente wie diese haben unserer Band immer einen Sinn gegeben.

prisma: Wie blicken Sie auf die Punkszene in der DDR zurück?

Campino: Die Punks im Osten hatten es natürlich deutlich schwerer als wir. Sie wurden als dekadente Erscheinung des Westens betrachtet. So etwas durfte es in der DDR nicht geben. Also versuchte das Regime, diese Bewegung zu zerreiben. Wir im Westen hatten den Luxus, demonstrieren zu können und uns beschweren zu dürfen, es gab einen anderen Umgang mit Autoritäten. Wir durften uns von Anwälten helfen lassen. Das war für Punks im Osten fast undenkbar.

prisma: Haben Punks in Ost und West vom Gleichen geträumt?

Campino: Das ist für mich schwer zu beurteilen. Ich denke, wir alle hatten den Traum von Freiheit ... insbesondere der persönlichen. Uns einte die Suche nach Lebensfreude, nach Lebenslust. Es ging auch um das Ausloten von Grenzen. Da waren sich alle gleich, die Punks aus Ost und West.

prisma: Im Film wird deutlich, dass es auch schlicht die Lust auf das Verbotene war, die Sie antrieb. Wenn der Campino von heute etwas Verbotenes tun wollte – was wäre das?

Campino: Da muss ich ja nur in Dresden über den Zaun klettern und ins Freibad springen. Schon habe ich eine Anzeige.

prisma: Das haben Sie ja mit Erfolg gemacht. Gäbe es noch was anderes? Haben Sie etwas versäumt?

Campino: Ich muss zugeben: Seine Grenzen auszuchecken, hat natürlich auch etwas Juveniles. Ich bin nicht mehr auf der Suche nach Stress. Sicher gibt es ein paar Graubereiche: eine schöne Party mit Ruhestörung ... so etwas. Es geht für mich allerdings nicht mehr darum, eine Befriedigung darin zu finden, etwas Verbotenes zu tun. Das kickt mich schon lange nicht mehr. Aber wer weiß: Wenn eine Aktion sinnvoll ist, dann wäre die Frage, ob sie erlaubt oder verboten ist, womöglich sekundär.

prisma: Viele Wessis legten direkt nach der Wiedervereinigung eine eher arrogante Haltung an den Tag im Umgang mit den Menschen aus dem Osten. Haben Sie das bei sich auch festgestellt?

Campino: Nein, im Gegenteil. Der Fall der Mauer war für mich ein riesiger Glücksmoment. Was Politik angeht, gab es in meinem Leben keinen schöneren. Alle waren berührt, es gab keinen Zynismus. Vielleicht waren wir alle ein wenig naiv und überrascht, dass die Wiedervereinigung auch ein paar Probleme mit sich brachte. Das mag schon auch eine Form von Arroganz sein: Dass wir eine Dankbarkeit von den Menschen aus dem Osten erwarteten und stattdessen feststellen mussten, dass dort jede Menge Leute empfänglich für nationalsozialistische Parolen und Gedanken waren. Nicht, dass wir die nicht auch in Westdeutschland gehabt haben, aber die schiere Zahl der Neonazis hat uns doch sehr erschrocken. Die alte Bundesrepublik dachte, den Leuten aus den neuen Bundesländern müsse es doch jetzt gutgehen, wieso fühlen sie sich abgehängt? Rückblickend versteht man vieles besser ...

prisma: Weil ..?

Campino: Teilweise glich die Vereinigung eher einer Annexion – die Westmark, die Frage, welche Betriebe erhalten wurden und welche nicht, das Verschwinden nahezu aller Ostprodukte aus den Kaufhäusern. Der Westen bestimmte die Regeln, und das ist den Leuten bis heute bewusst.

prisma: "Scheiß Wessis" heißt die neue Single der Hosen, Marteria hat parallel dazu "Scheiß Ossis" veröffentlicht. Mit dem Filmemacher Martin Groß haben Sie diese Dokumentation gedreht, in der eine Geschichte der europäischen Teilung erzählt wird. Es ist tragisch, dass unsere Kinder, die diese Spaltung niemals kennenlernen mussten, jetzt plötzlich etwas erleben, was wir längst überwunden zu haben schienen. Was sind Ihre Gedanken dazu?

Campino: Es ist bis aufs Mark erschütternd, dass wir von Putin in einem Zeitraum von 48 Stunden wieder um 50 Jahre zurückkatapultiert worden sind. Dass wir alte Traumata spüren, von denen wir dachten, sie lägen längst hinter uns. Dass vieles von unserer Grundeinstellung plötzlich auf den Kopf gestellt ist. Wir hielten es für idiotisch, Geld für Rüstung auszugeben. Wir hatten gelernt, dass ein Miteinander in jedem Fall besser ist als ein Gegeneinander. Und all diese Erkenntnisse scheinen plötzlich nicht mehr zu stimmen. Ein einziger Despot hat das erreicht, und er hat es über Jahre vorbereitet. Wir müssen nun erkennen, wie schnell ein großer Machthaber Unheil über die ganze Welt bringen kann.

prisma: Was bedeutet das für uns?

Campino: Sicher ist es geboten, in einer Art Alarmbereitschaft zu leben oder zumindest in einer Wehrfähigkeit, die wir uns über Jahrzehnte nicht vorstellen konnten. Aber natürlich haben diese Themen die Menschheit immer schon geprägt: Kriege führen, Geltungssucht, Machthunger – das sind Dinge, die schon tausende Jahre existieren und die wir offensichtlich nicht abstellen können, nur weil wir irgendwann gelernt haben, mit Messer und Gabel zu essen.

prisma: Trotzdem sind wir eine Situation wie diese nicht mehr gewohnt.

Campino: In unserem Europa nicht. Aber es gab und gibt überall und immer wieder Kriege der härtesten Art und Weise. Es ist eine Verblendung und eine Ignoranz von uns, dass wir über Jahre dachten, die Welt sei friedlich und normal. Dabei wurde Aleppo vor unseren Augen zerschossen. 2015 mussten Millionen Menschen aus ihrer Heimat fliehen. Spätestens da hätte uns klar werden müssen, dass die Dinge in eine Schieflage geraten sind. Aber auch in diesem Moment dachten wir nur an uns selbst und hatten als größtes Problem: Wie gehen wir mit den Geflüchteten um? Die Ursachen waren schon damals für uns zweitrangig.

prisma: Am 22. Juni haben Sie Geburtstag. Campino wird 60 ...

Campino: Ich beschäftige mich nicht sehr damit. Das kam schleichend auf mich zu. Über Nacht passiert so etwas ja nicht. Ich muss feststellen, es hat sich im Laufe der Zeit angebahnt. Und glauben Sie mir: Es ist auch nicht schlimm. Das gehört zu den Dingen, die sich nicht ändern lassen. Es gibt Sachen, von denen ich mich verabschieden muss. Aber das bedeutet eben auch, dass es Raum für Neues gibt. Mit diesem Gedanken bin ich immer gut gefahren.

prisma: Aber es ist schon ein anderes Leben ...

Campino: Ja, ich muss nicht mehr in Clubs rumhängen wie früher. Dafür kann ich ein gutes Buch lesen, mir einen Kinofilm ansehen oder daheim in meiner Plattensammlung wühlen. Jede Tür, die geschlossen wird, bedeutet, dass eine andere aufgeht. Jammern, hadern – das wäre Quatsch. Ich möchte sowieso nicht mehr mit 18-Jährigen auf der Rheinwiese Fußball spielen. Da suche ich mir lieber Leute in meinem Alter aus und habe das Gefühl, ich sei immer noch schnell genug.

prisma: Wenn Sie zurückreisen könnten ins Jahr 1982, als die Hosen gegründet wurden: Was würden Sie dem jungen Campino mit auf den Weg geben?

Campino: Ich würde ihm eigentlich nur sagen: Steck deinen Kopf nicht so oft in die PA-Systeme und schon gar nicht in die Bassdrum. Du wirst dein Gehör noch länger brauchen, als du es dir heute vorstellen kannst ...

(Am 27. Mai erscheint eine neuen Werkschau unter dem Titel "Alles aus Liebe: 40 Jahre Die Toten Hosen". Neben den besten Titeln aus vier Jahrzehnten wurden sieben brandneue Stücke eingespielt. Im Juni startet die Jubiläumstour.)


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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