OMD im Interview

"Als würde eine tote Katze Dudelsack spielen"

von Sven Hauberg

Auf ihrem neuen Studioalbum "The Punishment Of Luxury" bleiben sich die Synth-Pop-Ikonen OMD treu. Zeit für ein Gespräch über die Geschichte der Band.

Ihr größter Erfolg? "Hätte eigentlich nie ein Hit werden dürfen." Ihre Videoclips? "Echt beschissen." So über die eigene Vergangenheit zu sprechen, das muss man sich erst mal leisten können. Für OMD (Orchestral Manoeuvres In The Dark) kein Problem. Schließlich zählen die britischen Synth-Popper zu den erfolgreichsten Bands der 80-er. "Maid Of Orleans" war hierzulande gar die meistverkaufte Single des Jahres 1982.

Im Interview sprechen die gut gelaunten Bandgründer Andy McCluskey (58) und Paul Humphreys (57) über ihre bewegte Geschichte, über finanzielle Fehlschläge und überraschende Erfolge – und über ihr 13. Studioalbum "The Punishment Of Luxury", das am 1. September erscheint (hier bei Amazon bestellbar).

prisma: Ihr neues Album heißt "The Punishment Of Luxury". Sind Sie zu Kapitalismus-Kritikern geworden?

Andy McCluskey: Der Kapitalismus hatte einige positive Effekte. Wenn man sich die westliche Welt anschaut, geht es uns materiell gesehen besser als je zuvor – auch wenn natürlich manche durchs Netz fallen. Aber: Uns wird heute eingetrichtert, unser Leben sei nur wichtig, wenn wir diese oder jene Dinge besitzen und viele Likes bei Facebook haben. Die Sprache der Liebe ist heute der Konsum. Wenn du deinem Sohn kein neues iPhone kaufst, denkt er, dass du ihn nicht liebst.

prisma: Aber war das in den 80er- und 90er-Jahren nicht genau so?

Paul Humphreys: Es wird immer schlimmer! Die großen Unternehmen müssen immer mehr Profite machen. Also erfinden sie Dinge, die man angeblich unbedingt braucht, um glücklich zu sein.

prisma: Haben Sie als Band jemals den Druck gespürt, einen Hit nach dem anderen produzieren zu müssen?

Humphreys: Anfangs nicht. Wir waren das, was man einen hoffnungslosen Fall nennen würde. Wir schrieben seltsamen Scheiß im Hinterzimmer meines Elternhauses. Aber dann spielten wir unsere ersten Konzerte, schließlich kamen die Plattenverträge, erst mit Factory Records und dann mit Virgin. Plötzlich waren wir Teil der Maschine. Dennoch hatten wir komplette Freiheit bei den ersten vier Alben. Sie ließen uns machen, was wir wollten. Und jedes Album wurde größer und größer.

prisma: Bis 1983 schließlich das sehr experimentelle Album "Dazzle Ships" erschien ...

Humphreys: Genau. Unsere ersten vier Alben waren alle sehr unterschiedlich, aber immer erfolgreich. Und auf "Dazzle Ships" machten wir schließlich nur noch, was wir wollten. Das war wohl etwas zu viel Veränderung für unsere Fans. Musikalisch gesehen war das Album ein großer Erfolg, kommerziell aber ein Desaster. Und plötzlich brach bei den Plattenfirmen Panik aus.

prisma: Bei Ihnen auch?

Humphreys: Auch bei uns. Ich war verheiratet, wir hatten Kredite aufgenommen sowie Angestellte und eine Crew, die wir bezahlen mussten. Und dann dieses Desaster! Wir bekamen es mit der Angst zu tun, also spielten wir das Spiel mit. Unsere Musik wurde ein bisschen "sicherer". Wir wurden zu Handwerkern und machten keine musikalischen Experimente mehr. Wir haben zuvor nie absichtlich Hit-Singles geschrieben. Wir experimentierten einfach herum, und dabei kamen Songs heraus, die eben auch mal kommerziell erfolgreich waren.

prisma: Bereuten Sie den Schritt, nach "Dazzle Ships" kommerzieller geworden zu sein?

McCluskey: Rückblickend ja. Aber das Problem war: Ende der 80-er hatten wir 25 Millionen Platten verkauft – und eine Million Pfund Schulden bei der Plattenfirma. Wir hatten einen furchtbaren Deal ausgehandelt. Unsere Freunde von Depeche Mode hatten einen 50/50-Deal. Sie verkauften Millionen Platten und machten 50 Prozent des Profits. Deswegen konnten sie immer die Musik machen, die sie machen wollten. Weil sie verdammt viel Geld hatten. Wir hingegen waren bankrott (lacht)!

prisma: Waren Sie damals zu jung und zu unerfahren?

Humphreys: Ich war 19, als ich meinen ersten Plattenvertrag unterschrieb. Wir kamen aus der Arbeiterklasse und hatten kein Geld. Wir glaubten, dass der Deal es uns ermöglichen würde, das zu machen, was wir liebten, nämlich Songs zu schreiben. Und das, ohne einen normalen Job haben zu müssen. Das war naiv.

prisma: Schon Ihre ersten Songs waren stark von Kraftwerk beeinflusst. Wie kommt es, dass zwei Jungs aus der britischen Arbeiterklasse intellektuellen deutschen Elektropop hörten?

McCluskey: Wir waren auf der Suche nach etwas Neuem. Wir fanden Kraftwerk, und die waren anders als alle anderen Bands, die wir kannten. Ich könnte jetzt sagen: Kraftwerk werden nie wieder ein neues Album machen – also muss ja irgendjemand das Banner hochhalten für die Zukunft intelligenter elektronischer Musik (lacht).

prisma: Und das machen Sie?

McCluskey: Wir versuchen unser Bestes! Aber wir versuchen natürlich nicht, Kraftwerk zu sein. Wenn man etwas auf seine mechanischen Details reduziert und dann eine Synth-Melodie draufpackt, dann klingt man eben wie Kraftwerk. Dennoch machen wir unseren eigenen Sound. Wir haben für uns festgestellt: Wenn man den intellektuellen, harten, mechanischen Rhythmus nimmt und das Menschliche, die Vokals und die Melodie hinzufügt, dann erschafft man etwas, das noch kraftvoller ist.

prisma: Aber wollten Sie als Teenager, die Musik machten, nicht Sex, Drugs and Rock 'n' Roll? Kraftwerk ist ja das genaue Gegenteil davon ...

Humphreys: Alle unserer Freunde hörten Rockmusik. Genesis, die Eagles ... das fanden wir furchtbar langweilig. Als ich zum erstem Mal "Autobahn" von Kraftwerk hörte, wusste ich: Das ist die Zukunft der Musik. Damals war ich 15.

McCluskey: Wir fingen nicht an, Musik zu machen, weil wir ein Rocker-Leben führen wollten.

prisma: Fanden Sie wegen Ihres ungewöhnlichen Musikgeschmacks zusammen?

McCluskey: Wir gingen auf dieselbe Schule, waren aber in unterschiedlichen Jahrgängen, weil ich acht Monate älter bin als Paul. Ich war 16, er war 15. Seine Freunde suchten einen Bassspieler, und Paul hatte mich mit einer Bassgitarre gesehen. Wir lebten nur ein paar Hundert Meter voneinander entfernt. Ich kaufte damals diese deutschen Import-Platten, hatte aber nur einen beschissenen Mono-Plattenspieler. Und Paul hatte sich eine richtige Stereoanlage gebaut.

Humphreys: Ich war ein nerdiger Bastler!

McCluskey: Also ging ich zu ihm. Ich hatte die Platten, er die Stereoanlage. Und wir hörten gemeinsam diese deutsche Musik.

Humphreys: Weil wir kein Geld hatten, fing ich dann an, selbst Instrumente zu bauen. Kleine Maschinen, die sehr seltsame Geräusche machten. Irgendwann kauften wir dann ein kleines Keyboard. Darauf schrieben wir unseren ersten richtigen Song, "Electricity", der unsere erste Single wurde.

prisma: Welchen Einfluss hatte die Technologie auf Ihre Musik?

Humphreys: Die Technologie war extrem wichtig, vor allem auf "Dazzle Ships". Damals kam die Idee des Samplings gerade auf, und wir hatten diese fantastische Maschine, die das konnte.

McCluskey: Heute arbeiten wir eigentlich nur noch mit einem Computer. Man hat jetzt unendliche Möglichkeiten, die man sich damals gar nicht vorstellen konnte.

prisma: Das klingt allerdings nicht so spannend wie die Arbeit mit einem großen Synthesizer ...

McCluskey: Es ist viel aufregender. Und einfacher. Und billiger! Die alten Maschinen sind ständig kaputtgegangen. Junge Leute scheinen heute Puristen zu sein, was analoge Synthesizer angeht. Uns ist das scheißegal. Wir trauern dem nicht nach.

prisma: Sie sind weltweit erfolgreich, vor allem auch in Deutschland. Wie erklären Sie sich das?

McCluskey: Deutschland ist unser größter Markt, ja. Ich glaube, der internationale Erfolg hat damit zu tun, dass unsere Songs keine wirklichen Refrains haben. Ich singe die Strophen, aber für die Refrains ist die Synthie-Melodien zuständig. Eine Melodie ist international, dazu braucht es keine Worte. Das kann jeder, auch in Japan, einfach mitsingen.

prisma: Wie in "Maid Of Orleans" ...

McCluskey und Humphreys (singen): Da da da ...

prisma: Der Song war die erfolgreichste Single in Deutschland im Jahr 1982. Kam das überraschend?

McCluskey: Jeder erfolgreiche Song war eine Überraschung für uns. Weil wir nie versucht haben, einen Hit zu schreiben. Wenn man "Maid Of Oreans" hört, fragt man sich schon, warum der Song so erfolgreich war. Er beginnt mit 30 Sekunden Störgeräuschen – ääähhh, pffff – , dann kommt diese Schlagermusik-Drum-Machine und dann eine Melodie, die klingt, als würde eine tote Katze Dudelsack spielen.

Humphreys: Und du singst über ein total beliebiges Thema wie Jean d'Arc.

McCluskey: Das hätte eigentlich nie ein Hit werden dürfen!

prisma: Dennoch brachte Ihnen der Song viel Geld ein.

McCluskey: Wir haben Geld, sind aber keine Multimillionäre. In den 80-ern meinte unsere Plattenfirma, wir müssten unbedingt in den USA erfolgreich sein. Weil man da richtig Geld machen kann. Tatsächlich aber verloren wir unser ganzes Geld in den USA, weil wir dort auf Tour gingen, aber keine Platten verkauften. Danach waren wir pleite. Heute bekommen wir Geld von den Plattenfirmen, weil wir unsere Songs selbst geschrieben haben und dafür Tantiemen erhalten.

prisma: Können Sie die alten Songs von damals überhaupt noch hören?

Humphreys: Oh ja. Wir sind sehr stolz auf unseren Katalog. Es sind unsere Kinder. Man hört nie auf, sie zu lieben.

McCluskey: Auch wenn wir jedes Mal, wenn wir die Songs hören, zehn Euro an Virgin zahlen müssen (lacht).

prisma: Und wie sieht es mit den alten Videos aus den 80-ern aus?

McCluskey: Oh, das ist etwas anderes (lacht). Die sind peinlich!

Humphreys: Unsere Videos sind ein Desaster!

McCluskey: Wir haben echt beschissene Videos gemacht. Das erste richtig gute war "Maid Of Orleans". Gerade letzte Woche habe ich den Pulli gefunden, den ich im Video trug!

Humphreys: Wirklich? Unglaublich (lacht).

prisma: 1988 veröffentlichten Sie ihr letztes gemeinsames Album vor der Wiedervereinigung im Jahr 2010. Andy, Sie machten dann alleine weiter. Wie hat sich das angefühlt?

McCluskey: Das war sehr seltsam. Auf dem Artwork von "Sugar Tax", dem ersten Album ohne Paul, gibt es zwar ein Foto von mir, aber man sieht mein Gesicht nicht. Und mein Name steht auch nirgends. Ich versteckte mich hinter der Marke OMD. Ich wusste nicht, ob die Leute akzeptieren würden, dass ich ohne Paul weitermachte.

prisma: Aber es hat funktioniert ...

McCluskey: Ja! "Sugar Tax" war das erfolgreichste OMD-Album nach "Architecture And Morality". Dann aber vergaß ich die Lektion, die ich mir selbst beigebracht hatte, und brachte ein Album heraus, das ich zu schnell fertiggestellt hatte. Und das letzte Album ohne Paul kam schließlich zum falschen Zeitpunkt, Mitte der 90-er. Da interessierte sich niemand mehr für eine 80-er-Synth-Band. Nach Grunge und Britpop wirkte das wie aus der Zeit gefallen. Also hörte ich auf.

prisma: Paul, wie fühlten Sie sich, als Andy alleine weitermachte?

Humphreys: Wirklich seltsam. OMD war auch mein Baby.

prisma: War es nur der kommerzielle Misserfolg, Andy, der Sie dazu bewog, 1998 aufzuhören?

McCluskey: Nein. Mein Sohn wurde geboren, und ich wollte nicht das halbe Jahr auf Tour sein und dann heimkommen und feststellen, dass mein Sohn mich nicht mehr erkennt. Die Musikindustrie ist sehr egoistisch. Wenn du erfolgreich bist, dann frisst sie deine Zeit auf. Du bist ständig auf Tour und im Studio oder machst Promotion. Ich arbeitete sehr hart, aber es war sehr deprimierend, dass ich nicht mehr erfolgreich war. Ich hatte das Gefühl, meine Zeit zu verschwenden. Also fing ich an, Songs für andere zu schreiben.

prisma: Für Atomic Kitten beispielsweise.

McCluskey: Ich habe die Band erschaffen. Oder eigentlich: Kraftwerk haben Atomic Kitten erschaffen.

prisma: Wie bitte?

McCluskey: Ich sprach damals mit meinem Freund Karl Bartos (1975 bis 1991 Kraftwerk-Mitglied, d. Red.) und erzählte ihm, ich wolle ein paar Songs für andere schreiben. Er riet mir ab und sagte, das würde mich zur Hure der Plattenfirmen machen. Warum schreibst du nicht Songs und erschaffst eine Band für sie, frage er. Aber was für eine Band? Oh, die besten Popgruppen sind Girlbands mit drei Frauen, meinte Karl. Und er hatte recht!

prisma: 2010 dann die Reunion von OMD. Wer rief wen an?

McCluskey: Wir waren die ganze Zeit über in Kontakt, wir hassten uns nicht (lacht). Man hat uns damals für eine TV-Show in Köln angefragt, also rief ich Paul an und fragte ihn, ob er Lust hätte. Und er sagte ja. Also fuhren wir nach Köln, jemand hatte unsere Flüge bezahlt und das Hotel, und wir dachten uns: Das macht Spaß (lacht)!

prisma: Und Sie haben die Entscheidung nie bereut?

Humphreys: Auf keinen Fall. Das war die beste Entscheidung, die ich in den letzten 20 Jahren getroffen habe.

prisma: Hatten Sie Angst vorm Scheitern, als sie 2010 wieder gemeinsam als OMD durchstarten wollten?

Humphreys: Ich hatte schreckliche Angst. Wir hatten keine Ahnung, ob sich noch jemand für uns interessieren würde. OMD war vom Radar verschwunden, auch wenn ein paar Songs noch im Radio liefen. Wir wollten einfach mal schauen, ob es noch funktioniert. Wir haben neun Show geplant für unsere Comeback-Tournee, und daraus wurden schnell 49 Konzerte. Da fragten wir uns, ob wir von unserem früheren Ruhm zehren sollten, oder ob wir den nächsten Schritt gehen und wieder eine funktionierende Band werden sollten. Und das taten wir.

prisma: Heute ist Musik aus den 80-ern wieder angesagt. Wie erklären Sie sich das?

McCluskey: In den 90-ern hasste jeder die 80-er. Aber nach einiger Zeit blickt man unvoreingenommener zurück und denkt: Hey, da gab es gute Musik und verrückte Haare und lustige Kleidung. Heute leben wir in einer postmodernen Ära. Man kann Rock'n'Roll machen oder Psychedelic oder eben 80er-Synth-Musik, und alles ist in Ordnung. Nichts klingt altmodisch. Weil es nichts Neues gibt.

prisma: Es gibt nichts Neues?

McCluskey: Der Großteil der Popkultur zehrt von seiner Geschichte. Nicht nur Musik, sondern auch Mode, Film, Architektur. Es ist schwer, eine neue Richtung zu finden. Früher haben sich die Dinge nur langsam verändert, aber in den letzten 20 Jahren ging es immer schneller. Heute dreht sich einfach alles nur noch im Kreis. Etwas Radikales muss geschehen, bevor etwas wirklich Neues entsteht. Die Menschheit muss sich komplett verwandeln, oder die Technologie muss sich verändern.

prisma: Sie sind jetzt 57 und 58 Jahre alt. Wann haben Sie Ihre beste Musik gemacht?

McCluskey: Unsere beste Musik haben wir geschrieben, als wir in unseren Zwanzigern waren – und jetzt, in unseren Fünfzigern.


Quelle: teleschau – der Mediendienst

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