"Polizeiruf 110: Bis Mitternacht" – spannendes Verhör-Duell
In diesem "Polizeiruf" ist die Spannung von Anfang bis Ende greifbar. Bessie Eyckhoff (Verena Altenberger) verhört einen mutmaßlichen Serientäter, der – ohne Beweise – um Mitternacht freigelassen werden muss.
In ihrem vierten Fall hat Kriminaloberkommissarin Elisabeth "Bessie" Eyckhoff, gespielt von Verena Altenberger, die Uniform ausgezogen. Ihre Lehrzeit an der Basis ist vorbei, nun kommt Verantwortung in Jeans und Bluse. Gleich ihr erster Job als junge Vorgesetzte in der Münchener Mordkommission hat es in sich: Jonas Borutta (Thomas Schubert), ein mutmaßlicher Serientäter, sitzt im Verhörraum. Der junge Mann ist hochintelligent, aber ein Außenseiter mit psychischen Problemen. Vor allem junge Frauen, die er begehrt, aber nicht "haben" kann, provozieren ihn zu Gewalttaten. Man vermutet, dass er sowohl für den Mord an einer Joggerin vor einigen Jahren als auch für die Messerattacke auf eine Studentin in einem Wohnheim vor kurzem verantwortlich ist. Borutta saß beim letzten Mordverdacht schon mal im Verhörraum, man kennt sich. Allerdings fehlen auch diesmal handfeste Beweise oder ein Geständnis, weshalb man den Tatverdächtigen um Mitternacht freilassen müsste – wenn Ermittlerin Eykhoff bei ihrem seit Stunden laufenden Intensiv-Verhör kein Durchbruch gelingt.
Als Bessie mit ihrer Methode des empathischen Drucks, der Borutta zum Geständnis bewegen soll, zu scheitern droht, will ihr Vorgesetzter, Kriminalrat Martin Schaub (Christian Baumann), mithilfe der Staatsanwältin (Birge Schade) den ehemaligen Leiter der Abteilung und Verhörspezialisten Josef Murnauer (Michael Roll) aus der Rente zurückholen. Er kennt den Verdächtigen aus einem früheren Verhör-Duell. Für die impulsive, von der Nacht gezeichnete Eykhoff bricht eine Welt zusammen: "Warum holt ihr einen alten Deppen zurück, anstatt einmal einer jungen Frau zu vertrauen?", sagt sie. Doch die Nacht hat noch eine knappe Stunde in petto – und die wollen Murnauer und Eykhoff schließlich doch noch gemeinsam – und wild entschlossen – nutzen.
Der Krimi "Bis Mitternacht", für den Tobias Kniebe, Buchautor und Leiter des Filmressorts der "Süddeutschen Zeitung", eines seiner seltenen Drehbücher schrieb, beruht auf der wahren Fallbeschreibung "Wollust" des ehemaligen Münchener Mordermittlers Josef Wilfling. In seinem Buch "Abgründe: Wenn aus Menschen Mörder werden" hat der heute 74 Jahre alte, ehemalige Top-Ermittler das von Dominik Graf inszenierte Verhör-Kammerspiel vorgeschrieben. Man darf annehmen, dass über den Drehbuchkniff der Rückholaktion eines alten Ermittlers und dem zwischenzeitlichen Ausbooten Bessie Eykhoffs die Welten der Buchvorlage und des Polizeiruf-Casts zusammengebracht werden sollten. Mit dem 1993 geborenen Wiener Schauspieler Thomas Schubert ("Atmen") hat man dazu einen sehr guten Griff bei der Besetzung des Tatverdächtigen getätigt. Die Figur Jonas Borutta pendelt exzellent zwischen Verzweiflung und einer seiner hohen Intelligenz geschuldeten Überheblichkeit.
Die Rolle des schillernden Psychotäters hat man lange nicht mehr so stimmig, realistisch und ohne Effekthascherei im Film umgesetzt gesehen. Tatsächlich ist "Bis Mitternacht" furios geschrieben, gespielt und inszeniert. Alle Krimi-Gewerke greifen perfekt ineinander. Dominik Graf und seinem Ensemble gelingt ein spannendes Psychoduell fernab jeglicher Klischees, das aber trotzdem dem Thriller- und Polizeifilm huldigt. Wenn Michael Roll mit Hut sein altes Präsidium betritt, wird Filmgeschichte-Maniac Graf sicher auch ein bisschen an Lino Ventura und Klassiker wie "Das Verhör" gedacht haben.
Polizei-Kammerspiel auf höchstem Niveau
Dennoch ist der Münchener Sonntagskrimi keine exaltierte Film-Referenzkunst, wie man sie manchmal von Graf sieht, sondern ein hochpräziser Thriller. Ein bisschen erinnert sein Spannungsbogen an Daniel Kehlmanns Theaterstück "Heilig Abend", das im letzten Jahr unter dem Titel "Das Verhör in der Nacht" mit Charly Hübner und Sophie von Kessel fernsehverfilmt wurde. Vergleicht man die beiden gegen die Uhr arbeitenden Thriller miteinander, ist der "Polizeiruf" nicht nur deutlich spannender, sondern auch erheblich lebensnaher geschrieben.
Nach nunmehr vier "Polizeiruf 110"-Folgen mit Verena Altenberger als Matthias Brandt-Nachfolgerin weiß man immer noch nicht so recht, wohin einen der Münchener Edel-Krimi mit der eindrücklichen jungen Ermittlerin entführen will. Da waren die interessanten, aber bisweilen vor Ideen und Ambition berstenden Einstiegsfilmen "Der Ort, von dem die Wolken kommen" und "Die Lüge, die wir Zukunft nennen" (Regie bei letzterem: auch Dominik Graf). Dann überraschte der BR im Juni 2021 kurz vor der Sommerpause mit dem angenehm luftigen, Coen-Brüder-haften Philosophiediskurs "Frau Schrödingers Katze". Nun also ein klassischer Psychothriller, ein Polizei-Kammerspiel auf höchstem Niveau, das in seiner Qualität wirklich beeindruckend ist. "Bis Mitternacht" legt die Messlatte für die gerade begonnene Sonntagabend-Krimisaison im Ersten ziemlich hoch. Krimi-anspruchsvolle Zuschauerinnen und Zuschauer dürften damit sehr zufrieden sein.
Polizeiruf 110: Bis Mitternacht – So. 05.09. – ARD: 20.15 Uhr
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH