Bei "Maybrit Illner"

Handwerkspräsident über die Misere am Bau: "Die Kräne drehen sich noch, werden aber zum Stillstand kommen"

29.09.2023, 07.35 Uhr

Wie groß ist die Not auf dem Wohnungsmarkt und wie kann man für eine entspanntere Situation sorgen? Darüber diskutierten Gäste aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Verbänden bei "Maybrit Illner". Handwerkspräsident Jörg Dittrich zeichnete dabei ein düsteres Bild.

Aufhänger ist ein Versprechen von höchster Stelle, komprimiert in einer stolzen Zahl: Die Regierungskoalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP verabredete 2021 in ihrem Koalitionsvertrag 2021: "Unser Ziel ist der Bau von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr, davon 100.000 öffentlich geförderte." Die Verwirklichung ist ernüchternd: 2022 waren es gerade einmal 250.000 Wohnung, 2023 werden es noch weniger sein.

"Wann und wie entsteht wieder bezahlbarer und ökologischer Wohnraum?"

Insgesamt fehlen bald eine Million Wohnungen in Deutschland. Dazu befindet sich die Bauwirtschaft in der Krise: 40 Prozent aller Neuprojekte sind storniert, Zinsen und Materialkosten haben einen neuen Höchststand erreicht. Und mit Rohstoff- und Finanzierungsnot nicht genug: Die Politik beschließt immer neue Steuer-, Heiz- und Dämmrichtlinien, Schätzungen laufen auf 3.800 an der Zahl. Anlass für Moderatorin Maybrit Illner und ihre Runde, sich einer Frage mit gesellschaftlichem und ökologischem Sprengstoff zu widmen: "Wann und wie entsteht wieder bezahlbarer und ökologischer Wohnraum?"

"Rund 150.000 weniger neue Wohnungen als angekündigt – dieser Realitätsverlust muss doch nerven?", erkundigte sich Maybrit Illner bei Kevin Kühnert. Seine Partei habe diese "schöne Runde Zahl" ja nicht "ausgewürfelt", so der SPD-Generalsekretär, sondern man habe sich danach gerichtet, was der Markt brauche. Jährlich seien demnach 330.000 neue Wohnung nötig, dazu kommt ein "aufgewachsener Rückstand der letzten Jahre" von 700.000 Einheiten. Und mit Blick auf die Migrationsbewegungen in Folge des Ukraine-Kriegs räumt Kühnert ein: "Wir bräuchten rein rechnerisch wahrscheinlich sogar noch mehr." Aber: "Bauen funktioniert nicht wie Einkaufen im Supermarkt", merkte der Politiker an: "Da kommen viele Gewerke zusammen."

 

Anpassungen an die Realität zeigen sich im "14-Punkte-Plan" der Bundesregierung: Das am Montag auf dem "Baugipfel" beschlossene Programm sieht vor allem den Verzicht auf den vereinbarten Energiesparstandard EH40 für Neubauten vor, aber auch KfW-Förderprogramme und Eigentumsförderung für Familien. "Wir müssen vor allem ganz normalen Leuten bezahlbaren Wohnraum ermöglichen", so Kühnerts Zielsetzung. Allerdings stehe in dem Papier auch, dass in diesem Jahr "sicherlich keine 400.000 Wohneinheiten fertiggestellt werden", gab der SPD-Mann zu.

14-Punkte-Plan – nur eine "Absichtserklärung"?

Illner warf ein, dass auch die Union 1,5 Millionen Wohnungen innerhalb von Jahr bauen hätte wollen – was Julia Klöckner von der CDU selbstsicher aufnahm: "Wir wären auch weitergekommen als diese Ampel-Regierung." Das "Förderchaos" sowie das "hü und hott" rund um das Gebäudeenergiegesetz hätte die Menschen verunsichert, so die wirtschaftspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die das Potenzial des "14-Punkte-Plans" bei gerade einmal 30.000 neuen Wohnungen verortete und von einer "Absichtserklärung" sprach. Kühnterts Konter: "Die 14 Punkte sind auch nicht die zehn Gebote", böten aber zumindest "gute Grundlagen".

Für den Immobilienunternehmer Christoph Gröner sind die beschlossenen Maßnahmen nur "fiebersenkende Mittel": "Wir haben hier einen Patienten auf der Bahre liegen, der einen Dauerlauf vor sich hat. Sein Fieber und seine offenen Wunden behandeln wir mit Zäpfchen und Salben – wir müssen aber den Virus beseitigen." Medizinische Symbolik für "20 Jahre strukturelle Fehler": Mit der Erhöhung der Baustandards hätte sich der "Kaufpreis der Immobilie quasi verdoppelt. Gleichzeitig ist der Zins gesunken. Jetzt ist er in die Höhe gegangen. Dabei ist die Wohnung unbezahlbar geworden", diagnostiert der Bauunternehmer und fordert massive Zinssenkungen und vergünstigten Darlehen. Die aktuelle Bundesregierung trage seiner Meinung nach "weder Schuld noch Verantwortung" für die hohen Kosten im Bausektor, weshalb er in Richtung Kevin Kühnert appellierte er: "Sie müssen sich uns zunutze machen und vor ihren Karren spannen."

"Die Auftragsbücher sind leer."

Kevin Kühnert stellte jedoch klar: "Wir in der SPD sind nicht dafür gewählt worden", donnert der General in die Runde, "Wohnungen, die von Projektenwicklern mit dollen Renditeerwartungen geplant worden sind, jetzt wieder alle mit Fördergeld zuzuschmeißen, damit sie ihre irrsinnigen Renditeerwartungen mit unserer Förderung möglich machen."

Für eine Bauoffensiv bereitstünde auch Jörg Dittrich, Dachdeckermeister und als Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks für rund sechs Millionen Handwerker zuständig: "Die Kräne drehen sich noch, werden aber zum Stillstand kommen." Über den 14-Punkte-Plan "als Basis" sei er "froh". Nun müsse dieser schnell mit "Terminen und Zuständigkeiten" angereichert werden: "Die Auftragsbücher sind leer." Und: "Wenn wir nicht an die Standards rangehen, wird es das bezahlbare Wohnen nicht mehr geben!"

"Mit einer Zinssteigerung auf vier Prozent ist die Party vorbei", fasste Bauexpertin Lamia Messari-Becker die aktuelle Misere zusammen. Das sei "kein Schicksal", sondern das Resultat einer "Kette von vielen Fehlentwicklungen" im Richtlinien-Dickicht. Zudem hätten sich Bund, Länder und Kommunen in den vergangenen 20 Jahren aus dem operativen Baugeschäft "immer mehr zurückgezogen". Die Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik setzt unter anderem auf nachhaltige kommunale Grundstücksvergabe auf Basis von Erbpacht.

Die Modernisierung, oder, wie es Wibke Werner vom Berliner Mietverein formulierte, "energetische Ertüchtigung" von Bestandsgebäuden, von denen laut Christoph Gröner rund 40 Millionen sanierungsbedürftig seien, dürfe wiederum nicht auf die Mieter umgelegt werden. Oft sei dies ein "Umweg", wenn eine Erhöhung nicht stattfinden kann. Viele Menschen sehen sich also vor der Frage: "Lieber frieren als sanieren?" Gröner, der in der Wohnungsnot "sozialen Sprengstoff" sieht und auch sonst vor radikalen Maßnahmen nicht zurückschrecken würde, hat – und in diesem Ziel ist sich die Runde einig – dazu eine Antwort: "Ins Bauen kommen."


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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