Neue Netflix-Serie

"1899": eine Fahrt auf der teuersten Geisterbahn der Welt

15.11.2022, 11.06 Uhr

Die Passagiere auf einem Schiff, das europäische Auswanderer nach New York bringen soll, müssen sich auf See düsteren Ereignissen stellen. "1899" ist die neue Serie der "Dark"-Macher und teurer als jede deutsche Produktion zuvor. Haben sich die Kosten und Mühen gelohnt?

Kulissen von "Titanic"-artigem Umfang, bildgewaltige "The Volume"-Technik, die man von "The Mandalorian" kennt, und viele, viele Geheimnisse, sowohl im Plot als auch bei den Charakteren: Diese Zutaten sollen in der achtteiligen Netflix-Serie "1899" – zu sehen ab Donnerstag, 17. November – eine Welt erzeugen, wie man sie aus Deutschland noch nicht gesehen hat. Das rätselhafte Auswanderer-Epos wurde erschaffen vom Ehepaar Jantje Friese (Drehbuch, Produktion) und Baran bo Odar (Regie), das zuvor für drei Staffeln "Dark" nicht nur Trophäen wie den Grimmepreis abräumte, sondern auch einen großen internationalen Zuschauererfolg feierte. Mystery mit deutschem Arthaus-Touch lieferten Friese und Odar in die weltweiten Wohnzimmer. Gleichzeitig waren ihre Bilder, Erzählungen und Effekte beeindruckend genug, dass nicht nur Kunstfilm-Fans oder an Um-die-Ecke-gedacht-Tüftler zuschauen wollten.

In "1899" probieren die deutschen Netflix-Lieblinge nun etwas noch Größeres aus. Die historische Serie, die im Jahrhundertwendejahr ihres Titels spielt, begleitet eine Gruppe Auswanderer an Bord der "Kerberos" auf dem Weg von Southampton nach New York. Gesprochen werden an Bord, stellt man bei Netflix den "englischen" Originalton ein, übrigens neun Sprachen: Englisch, Deutsch, Dänisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Norwegisch, Polnisch und Kantonesisch. Wem das zu stressig ist, kann auch die deutsch synchronisierte Version wählen.

Im Zentrum steht Maura Franklin (Emily Beecham), die Medizin studiert hat, von Albträumen geplagt wird und – ungewöhnlich fürs Jahr 1899 – als Frau alleine reist. Als zweite Hauptfigur könnte man den deutschen Kapitän Eyk Larsen (Andreas Pietschmann) ausmachen, der auf seinem schwimmenden Stahlungetüm plötzlich das Funksignal seines Schwesterschiffes "Prometheus" empfängt, das vor einigen Monaten spurlos auf See verschwand.

Auf dem Weg zum verlorenen Schiff, von dem niemand weiß, in welchem Zustand es sich befindet, lernt man – ähnlich wie bei "Titanic", nur eben mit sehr viel mehr "Mystery" behaftet – weitere Reisende kennen: ein wohlhabendes französisches Paar (Mathilde Ollivier, Jonas Bloquet) auf Hochzeits-Trip, das aber offenbar nicht besonders glücklich ist, einen jungen spanischen Priester (José Pimentão) und seinen dandyhaften Bruder (Miguel Bernardeau), die rätselhafte junge Geisha Ling Yi (Isabella Wei) und ihre ältere Begleiterin (Gabby Wong) sowie eine arme dänische Familie unter Deck oder den polnischen Kohlenjungen Olek (Maciej Musial).

Neue Drehtechnik nach Vorbild von "The Mandalorian"

Als die "Kerberos" die "Prometheus" erreicht, geht eine kleine Delegation an Bord des Hilferuf-Senders, findet dort aber mehr Geheimnisse als Antworten vor. Bald verändert sich auch die Stimmung an Bord der "Kerberos". Wie man sich denken kann, denn man wäre kaum bei einer Mystery-Serie der "Dark"-Macher, würden hier nur historische Verwerfungen, "Traumschiff"-Liebesgeschichten oder ein "weltliches" Untergangsdrama erzählt.

Knapp 50 Millionen Euro sollen die ersten acht Folgen des auf drei Staffeln angelegten Netflix-Hits in spe gekostet haben. Sieht man sich die dunklen, aber durchaus edlen Bilder an, die gefühlt zu 95 Prozent auf See spielen, weiß man, wohin das Geld, nun ja, geflossen ist: Große Sets wie der gigantische Speisesaal, der Maschinenraum oder auch die Weite des Decks wurden von sündhaft teuren digitalen Projektionswänden von mal tobender, mal ruhigerer See umstellt. Eine als "The Volume" bekannt gewordene Drehtechnik, die für das "Star Wars"-Epos "The Mandalorian" erfunden und nun erstmals in Europa eingesetzt wurde.

Aber ist "1899" auch abseits der Bildgewalt fesselnd? Es ist eine Serie mit enorm hohem Tempo und rekordverdächtig mannigfaltiger Rätselkultur. Manchmal fühlt man sich beim Zuschauen wie in einem extrem gut ausgestattetem "Escape Room". Einer, der beim kommerziellen Rollenspiel das Letzte aus den Teilnehmenden herausholen will und dabei auf viele bekannte Mystery-Motive, aber eben auch Klischees setzt. Doch wer sind die Spielenden in "1899" – die Figuren der Serie oder gar die staunenden Netflix-Abonnenten? Eine Frage, die Jantje Friese und Baran bo Odar wahrscheinlich gefallen würde.

Ein wenig fehlt es an neuen Ideen

Im Gegensatz zu "Dark" ist "1899" die sich schneller erschließende, weniger "deutsche" und wuchtigere Serie. Allerdings leiden die gestellten Rätsel auch ein bisschen darunter, dass man sie so oder so ähnlich schon in anderen Produktionen gesehen hat. Darauf könnte man nun antworten: Das ist Genre, beim Horrorfilm kommen ebenfalls immer wieder schreckliche Gestalten plötzlich hinter der Tür hervorgesprungen. Trotzdem muss man sagen: Auch bei "Mystery" gibt es neue Ideen. Zum Beispiel in der mehrfach Emmy-nominierten Ben Stiller-Serie "Severance", die bei Apple TV+ mit ebenso vielen Geheimnismotiven arbeitet wie "1899", dabei aber verblüffend neue Motive entwickelt.

"1899" ist dagegen eher wie eine Fahrt in der vielleicht teuersten Geisterbahn der Welt: Man staunt über die Effekte, kennt sie aber auch schon ein bisschen. Trotzdem: Mit der tollen Ausstattung, wozu explizit auch die fantastischen Kostüme und Innenraum-Designs zählen, den paneuropäisch originellen Figuren und dem irren Titanic-in-Horror-Setting ist "1899" dennoch ein Serien-Highlight des Herbstes 2022.


Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH

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