Nichts bleibt, wie es war: Der neue "Tatort" aus Weimar fühlt sich irgendwie ... anders an. Während Dorn ermittelt, ist Lessing verletzt – und der Zuschauer am Ende vor allem verwirrt.
Eigenartige Stimmung, verwirrende Ereignisse, unsichere Aussichten: Der erste "Tatort" des neuen Jahres könnte zum allgemeinen Gefühl des zu Ende gehenden 2020 besser kaum passen. Eine mysteriöse Aura umgibt den Weimarer Neujahrs-Krimi "Der feine Geist", der letztlich sogar mehr Fragen aufwirft als klärt. Zwar beginnt der elfte Fall aus der thüringischen Klassikerstadt vergleichweise gewöhnlich – jedoch sind die Ermittler sogleich involviert: Bei einem Spaziergang werden Kira Dorn (Nora Tschirner) und Lessing (Christian Ulmen) durch Zufall Zeugen eines Mordes an einem Geldboten – und das am helllichten Tag vor einem Juweliergeschäft mitten in der City.
Schon kommt es zur ersten Kuriosität – einem Showdown gleich am Anfang: Die Kommissare nehmen die Verfolgung auf, der Täter flieht in die bekannte, überaus verzweigte Parkhöhle unter dem Park an der Ilm. Roter Rauch, dann ein Schusswechsel – Lessing wird von einem Streifschuss verletzt, der Täter kann fliehen. Der atemlose Auftakt gibt die Stoßrichtung des Krimis vor, bei dem wie bereits beim letzten Weimarer "Tatort: Der letzte Schrey" Mira Thiel Regie führte. Dorn ermittelt, während sich der lädierte Lessing behandeln lässt und schonen muss. Es ist eine weitere Auffälligkeit: Zwar darf Ulmens Figur mitreden und seine bekannten Sprüche zum Besten geben ( "Schreibe nicht der Bösartigkeit zu, was mit Dummheit hinreichend erklärbar wäre") – doch den Fall treibt diesmal seine Kollegin und Partnerin voran, mit der er Kind und (ein noch zu renovierendes) Haus teilt. Die Dynamik zwischen beiden – sie ist zwar existent, aber komischerweise auf ein Minimum beschränkt.
Die Eigenartigkeiten nehmen ihren Lauf: Polizeichef Kurt Stich, gespielt von einem abermals herausragenden Thorsten Merten, kündigt tatsächlich seinen Ruhestand an – hält zugleich aber so sehnlich an seinem Job fest, dass er die Kollegen geradezu drängt, ihn zum Bleiben zu bewegen. Nicht zuletzt scheint der sonst so konfrontative Besserossi plötzlich handzahm kollegial zu werden: "Frau Dorn, Sie ahnen gar nicht, wie sehr ich diese Diskussionen vermissen werde". Und doch: Im Gegensatz zu Kira glaubt Stich, dass man es beim aktuellen Fall lediglich mit einem gewöhnlichen Raubmord zu tun habe. Die Ermittlerin wiederum vermutet, dass das Opfer Ludgar Döllstädt, Geschäftsführer des Sicherheitsunternehmens "Geist Security", nicht zufällig erwischt wurde.
Schließlich wurde der später Ermordete ein paar Tage vorher bei einer Verkehrskontrolle angehalten – und das ausgerechnet von Lessing, der – es wird mysteriöser – Dorn darüber jedoch völlig im Unklaren ließ. So muss die Kommissarin selbst herausfinden, dass sich Döllstädt nicht nur gemeinsam mit der Landesverwaltungsamtsabteilungsleiterin Maike Viebrock (Inga Busch) im Auto befand, sondern auch mit einem wertvollen seltenen Papagei im Kofferraum. Viebrock entpuppt sich als einstige leidenschaftliche Geliebte des Chefs, derweil führt der exotische Vogel zum Inhaber von "Geist Security": John Geist, als geschäftstüchtiger Hipsterproll von Ronald Zehrfeld brillant getroffen, mag komische Vögel, neuseeländische Abschiedsrituale und ein enges Zusammenleben mit seinen "Familie" genannten Angestellten. Aber ließ er auch seinen Geschäftsführer töten, um eine Bestechungsaffäre samt illegal gehandelter Vögel zu vertuschen?
Während Dorn und Stich die kauzigen Verdächtigen verhören und observieren, lernt der Zuschauer viel über Vögel ("Der Kot lässt Rückschlüsse auf den Zustand der Tiere zu"), Vogelflüsterer – und sonstige Liebhaber: Der Boss vernimmt dank "unbeschreiblicher Anziehungskraft" seine Ex-Affäre nämlich abermals hautnah (Dorn: "Ihr Einsatz hat sich gelohnt"). Derweil wähnt sich Lupo bereits als neuer Chef, kauft eine wahnsinnig teure Kakaomaschine und sagt Lupo-Sätze wie: "Es gibt 40 Wörter für Wahnsinn, aber nur eines für gesunden Menschenverstand – hab ich mal in nem Glückkeks gelesen". Doch die absurde Normalität des Weimar-"Tatorts" hält nur für eine Weile, existiert nur oberflächlich. Der Kriminalfall rückt – trotz eines weiteren Mordes und waffenreichen Showdowns – bald in den Hintergrund. Schnell wird klar: Hier ist einiges anders, als man zu glauben meint.
Passend extravagant in Szene gesetzt, nimmt die Handlung immer bizarrere Formen an. Zwar bleibt der bekannte Dialogwitz erhalten ("Der hat ganz schön viel Luft im Bauch" – "Ich bin verheiratet – ich weiss wie Männer riechen können"), ebenso die manchmal müden Namens- und Wortspiele ("Oh, ich seh einen Geist", "Das kann ja kein Vogelschiss sein") Doch herrscht – trotz aller Kalauer – auch eine ungewohnte Ernsthaftigkeit in diesem "Tatort" aus Weimar. Die Ermittler schreien sich und andere an, verhalten sich gereizt, aber auch nachdenklich. Eine neue Seltsamkeit liegt in der Luft, Traurigkeit erfasst Weimar. Die Beziehungen zwischen den Hauptcharakteren scheinen eine unumkehrbare Wandlung zu erfahren. Klar ist am Ende dieses sehenswerten Falls nur eines: Nichts bleibt mehr so, wie es war.
Quelle: teleschau – der mediendienst GmbH